literature

Der letzte Flug des GreifenVII

Deviation Actions

Thereallobezno's avatar
Published:
475 Views

Literature Text

1. KAPITEL - Weggefährten



Lausanne (CSF/Schweiz) - 06:53 Uhr, 11. April 2069

Es war ein herrlicher Morgen mit einem atemberaubenden Ausblick auf den Genfersee.
Überall lag Schnee, der im diffusen Sonnenlicht wie Diamanten glitzerte, während in der Ferne das Bellen eines aufgebrachten Hundes zu hören war. Gryff wanderte über einen gepflegten Kiesweg, las die Namen auf den Grabsteinen und versuchte sich vorzustellen, was für ein Leben die Leute wohl gehabt hatten - er beneidete sie.
Schon zu solch früher Stunde war der Friedhof rege besucht.
Die Leute knieten, standen oder saßen vor den Gräbern. Viele räumten den Schnee weg, andere sprachen mit ihren Verblichenen, sahen nach den Blumen oder luden neue RFIDs hoch und entfernten die Spuren von AR-Vandalen.
Einen von ihnen, der andächtig vor einem prächtig geschmückten Grab stand, kannte Gryff nur all zu gut.
Mit einem Lächeln trat er an diesen heran und murmelte „Le Dernier?".
Merde!", der knapp sechzigjährige Mann fuhr erfreut herum, „dass jemand den Namen noch kennt. Hallo Gryff!"
Eine kurze Umarmung folgte - streckte Jean-Philippe Garand Gryff an den Cyberarmen von sich und musterte ihn eingehend. Sein linker Mundwinkel schien etwas zu hängen.
„Lass dich doch mal ansehen: Sieht immer noch wie ein Landstreicher aus und ist immer noch ein verdammt cooler Hund!"
Fröstelnd zog er die Hände zurück und hielt sie sich wärmend unter die Achseln. „Frieren dir die Dinger nicht ab?"
„Nein, ich kann ihre Oberflächentemperatur nach belieben kontrollieren."
Währen Gryff die Arme wie zur Demonstration hob, verschränkte sie Jean-Philippe. „Du hast dich kein bisschen verändert!"
Gryff zog die verspiegelte Brille aus.
„Woah! Hast du dir die machen lassen? Passen perfekt zu dir!"
„Eigentlich nicht", antwortete Pius verlegen, während seine Nickhäute nervös zuckten, „das war der Komet!"
Jean-Philippe wirkte kurz verunsichert, als ihn Gryff brüderlich anlachte. „Wie geht's dir überhaupt?"
„Oh, ich besuche gerade meinen Sohn!"
Als würde er ihm jemanden vorstellen, drehte sich Le Dernier wieder dem Grab zu.
Pius achtete dafür erstmals auf den Namen und das Sterbedatum darauf - Julien Garand, 2. November 2064.
„Ich verbringe jeden Morgen hier mit ihm, egal bei welchem Wetter. Aber für dich hab ich immer Zeit Gryff."
Jean-Philippe fuhr sanft über den Grabstein. "Bis später Jul. Wollen wir uns nicht setzen?"
Er zeigte auf eine nahe Sitzbank und machte sich auf den Weg.
Gryff glaubte sich zu erinnern, dass Julien der jüngere von Jean-Philippes zwei Söhnen gewesen war. „Was geschah?"
„Ach... damals waren wir noch naive Idioten. Wir hatten diese abstruse Illusion, dass wir berufen wären, etwas in und durch die Matrix bewirken zu können. Weißt du, er kam mit mir mit. Wir dachten scheinbar wirklich, wir hätten eine Chance…"
Er sprach mit einer Resignation, die Pius erschaudern ließ.
„Mich flickten sie später in der Clinique Cecil zusammen. Doch für Jul kam jede Hilfe zu spät."
Jean-Philippe vergrub seine Hände in den Manteltaschen. „Was einst meine Heimat, mein Zuhause war, nahm mir mit ihrem Untergang alles was mir lieb und teuer war... was mir jemals etwas bedeutete! Sébastien fürchtet inzwischen, dass die heutige Wifi-Matrix wohl meiner angeschlagenen Gesundheit den Rest geben könnte. Also hat er ein Auge auf mein Kommlink und achtet ganz genau darauf, dass ich kein Sim-Modul benutze. Auch nicht mit 'kalter' Sim."
Er blieb nachdenklich stehen.
„Weißt du Gryff, es ist, als wäre mir mein Straßenname zum Fluch geworden. Ich meine, ich war einst mal wirklich stolz darauf. Wenn der Rest schlapp machte; wenn's die andere Decker schon längst aus der Matrix gehauen hatte, stand ich immer noch da und hielt die Stellung. Auf mich war Verlass! Ich war ein Magier, une merveille, mit dem Deck."
Le Dernier sah Gryff direkt in die Augen und dieser konnte keine wirkliche Regung ausmachen.
„Und heute? Sie sind alle weg, haben mich vergessen und zurückgelassen. Meine geliebte Patricia starb 2059 beim Absturz von Flug 1118, Jul bei meinem fanatischen Kreuzzug, das Unabwendbare aufhalten zu wollen. Und Sébastien hat es wohl nie überwunden, dass ich seinen geliebten, jüngeren Bruder tötete. Auch ihn habe ich verloren. Wenn Gott gerecht wäre, würde ich in dem Grab liegen und Julien leben!"
Eine Pause folgte, in der Pius ihm verunsichert die Hand auf die Schulter legte. „Was soll ich bloß sagen... es tut mir so unendlich leid!"
„Muss es nicht Gryff, muss es nicht. Was gewesen ist, ist gewesen. Sagt Sébastien auch immer."
Erst jetzt wurde sich Le Dernier des Grabes bewusst, vor dem sie zum Halten gekommen waren. „Auch er durfte gehen!" war sein Kommentar hierzu.
Pius las den Namen im Stein, konnte aber damit nichts anfangen. Außer das hier das Sterbedatum auch der 2. November 2064 war.
Als er aufsah, murmelte Jean-Philippe nur ein knappes „Tell" und ging trotz der sichtlichen Bestürzung Pius weiter.
„Ich bin endgültig raus aus dem Biz und den Schatten, das ist alles vergangen und vorbei. Aber falls du auf der Suche nach einem Hacker hierher gekommen bist, muss ich dich wirklich enttäuschen. In ganz Lausanne wirst du nicht fündig werden! Dies ist nicht mehr das Paradies, das es einmal war. Die meisten Profis ziehen weg und die wenige, die hier noch in den Schatten aktiv sind, leben in Angst... Todesangst. Denn irgendein Konzern hält sich ein geheimes Todesschwadron, welches auf das aufspüren und eliminieren von Hackern spezialisiert ist und für jeden killt, der bereit ist, ihnen eine horrende Summe dafür zu entrichten. Sébastien schätzt, dass sie dieses Jahr schon über dreißig Hacker auf dem Gewissen haben. Darunter auch Joëlle, meine Lieblingsnichte... sie war so ein nettes Mädchen."
Er blieb stehen und setzte ein Lächeln auf, dass Gryff nicht deuten konnte.
„Um was geht's dir eigentlich?" fragte er.
„Ein Himmelfahrtskommando in die Genom-Arkologie. Sie haben AristoC.A.T. und spätestens in 5 Tagen ist sie tot."
Jean-Philippe Garand erstarrte.
Und Pius konnte spüren, wie etwas in seinem Gegenüber zerbrach.
Panik flackerte kurz in den Augen Le Derniers, kam dieser ins schwanken und verlor das Gleichgewicht. Gryff fing ihn jedoch noch rechtzeitig auf und begleitete ihn die wenige Schritte zur Sitzbank.
Sébastien hat mir verboten, mich mit Leuten wie dir zu treffen!"
Erstmals klang die Stimme müde, abgekämpft.
„Er hat ständig ein Auge auf mich, ist sehr um meine Gesundheit besorgt und wacht deswegen, wohin ich gehe und mit wem ich spreche."
Aus den Augenwinkeln nahm Gryff hektische Bewegungen am Friedhofseingang wahr.
„Ich meine, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht aufwache und mir wünsche, ich wäre damals an Juliens Stelle gestorben. Dann ruft meistens Sébastien an, erkundigt sich um mein Wohlergehen, versucht mich aufzumuntern und bespricht mit mir meinen Tagesablauf. Danach komme ich hierher. Wenn es das Wetter zulässt, besuche ich auch Patricia und bin stets zum Dîner zu Hause. Solange kocht uns dann meistens etwas feines; Sébastien berichtet mir, wie es in der Welt da draußen aussieht und wir schweigen uns an, bis ich endlich ins Bett darf!"
In der Entfernung konnte Gryff inzwischen Leute ausmachen, die in ihrer Richtung unterwegs waren. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie bewaffnet waren.
„Ich meine, er zeigt seine Verachtung nicht offen, er gibt sich wirklich Mühe, aber sein Blick spricht Bände!"
„Le Dernier?!?"
Jean-Philippe sah auf.
Und wenngleich er erschöpft wirkte, hatte sein Blick jetzt etwas lebendiges, ungezähmtes, das zuvor nicht da gewesen war.
„Das sind Sébastiens Leute. Er hat mir zwar geschworen, dass ich wenigstens im Friedhof tun und lassen kann, was ich will. Aber wenn es um meine Gesundheit geht, ist er unerbittlich. Und mein Schwächeanfall haben sie garantiert mitgekriegt."
„Aber ist mit dir alles in Ordnung, brauchst du was?"
„Ja! Mach dir keine Sorgen um mich, für mein Wohl wird gesorgt. Nur du musst jetzt schleunigst weg. Sébastien ist CEO der Phénix Sicherheitstruppen. Und das sind echt unangenehme Gesellen. Eindeutig mehr Ärger, als du im Moment gebrauchen kannst!"
„Sicher?"
„Ja doch Junge, es ist wirklich nur ein Schwächeanfall. Ich werde dir nicht gerade hier versterben! Das weiß ich leider aus Gewissheit. Tut mir nur leid, dass ich dir absolut nicht helfen konnte…"
Pius ergriff seinen Arm und drückte ihn fest an sich. "Pass auf dich auf Speezi. Egal was gewesen ist. Du warst, bist und wirst der beste Decker für mich sein!"
Le Dernier grinste. Und dieses Mal kam es von Herzen.
„Viel Erfolg bei deinem Himmelfahrtskommando. Du wirst es verdammt nochmals brauchen!"
Dann erhob sich Gryff, vergewisserte sich, dass er noch nicht bemerkt worden war und eilte davon.
Jean-Philippe blickte ihm nach. "Und danke, dass wenigstens du mich nicht aufgegeben hast!"
Tja, manchmal durchkreuzt das Leben die besten Pläne.


▼ Was bisher geschah: [link]

▲ Fortsetzung: [link]



Background



RFID ist das Kürzel von RadioFrequenzIDentifikations-Marker. Das sind Miniatursender mit einer Reichweite von ca. 5 Meter, die für jeden mit einem eingeschalteten Kommlink in der Augmented Reality ununterbrochen Daten übertragen.
Das sind dann im obigen Fall wohl Lebensläufe (in Form eines 3D-Filmes) oder Fotoalben (beliebt sind die für knapp eine halbe Minute animierte Sequenzen, die einen komplett einhüllen und sozusagen einen Augenblick des Lebens miterleben [oder selber erleben] lassen) des Verstorbenen, sein Lieblingslied, Gedicht, Film etc.
Erinnerungsstücke alt…

AR-Vandalen, also Augmented Reality-Chaoten sind dafür Witzbolde, welche die oben erwähnten Datafiles manipulieren, löschen oder abändern/ersetzen. Sehr beliebt sind dabei Sequenzen; die, während man völlig ahnungslos z.B. mitverfolgt, wie der/die Verstorbene mit seinem Lieblingshündchen herumtollt, einen plötzlich auf extrem brutale und äußerst blutige Art und Weise die Todesart nacherleben lässt.
Also machen sie bloß einen GROSSEN Bogen um ein Grab mit RFID-Marker, von denen sie wissen, dass der Verstorbene beim Sturz in einen Häcksler starb!

Die Wifi-Matrix ist dafür nichts anderes als einen frei schwebende, überall zugängliche Version der Matrix (DAS Internet der Zukunft in SR). Mann kann also sozusagen während dem Velofahren gleichzeitig seine 3600 Videos 3D genießen, ohne die Hände vom Lenker nehmen zu müssen!

Ein Sim-Modul ist eine technische Komponente, die zwingend nötig ist, wenn man mit seinem Kommlink Zugriff auf die volle Virtuelle Realität der WiFi-Matrix haben möchte. In obigem Fall (mit dem Fahrrad) könnte man also ohne Sim-Modul die Videos bloss auf dem Display des Kommlinks geniessen.

Als 'kaltes' Sim wird ein Sim-Modul verstanden, dass demjenigen, der es benutzt stets spüren lässt, dass alles nur virtuell und eine Illusion ist!
Man ist aber auch langsamer in der der WiFi-Matrix unterwegs…
Ein ’heißes’ Sim dafür lässt einen wirklich schnell sein und alles erleben, als wäre man absolut real und physisch dabei!
Hoffen wir nur, dass man damit nicht einem gewissen Grab zu nahe kommt…

„Tell“?

Phénix?




Dramatis personae


Jean-Philippe Garand
-Ehemaliger Runner unter dem Strassennamen Le Dernier.

Gryff
aka Pius Meyer Wettstein
-Runner mit keramikweißen Cyberarme.
Hat braunes, von einigen silberblonden Strähnen durchzogenes Haar und schwarze Raubvogelaugen mit goldenen Iriden und milchigen Nickhäuten.
© 2011 - 2024 Thereallobezno
Comments2
Join the community to add your comment. Already a deviant? Log In
NikitaTarsov's avatar
Schöner Farbtupfer, Dead-Ends werden ja heute normalerweise nicht mehr beleuchtet......
Aber wieder schöne Char-Schau:)