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Der letzte Flug des Greifen V

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Basel (SEg/Schweiz), Genom Arkologie - 13:23 Uhr, 10. April 2069

Neugierig trat Doktor Harald F. Schiffmann an die gepanzerte Glaswand der Quarantänestation, welche im Moment einen einzigen Gast beherbergte.
Die zierliche Frau auf der medizinischen Liege erinnerte ihn an Dornröschen aus dem gleichnamigen Märchen. In tiefem Schlaf gefangen, schien sie auf einen unerschrockenen Held zu warten, der sie erretten sollte.
Nur würde diese Maid hier niemals wach geküsst werden.
Irgendwie verunstalteten die Gurte mit denen ihr nackter Körper an die Liege fixiert wurde ein wenig das Bild der ruhenden Prinzessin. Obwohl ihre dichte Körperbehaarung diesem Eindruck auch nicht zuträglich war.
SURGE hatte ganze Arbeit geleistet...
Denn diese Prinzessin hatte Katzenohren und einen echten Schwanz. Ihre Finger, sowie Zehen schienen darüber hinaus Krallen zu besitzen und sogar Schnurrhaare waren auszumachen - zusätzlich zum graublauen, schwach getigerten Fell das ihren Körper überzog.
Wenn er so ihre Behaarung bedachte, würde er sie wohl scheren müssen.
Nachdenklich aktivierte der Wissenschaftler über sein Kommlink ihr Patientendossier, öffnete es im Raum vor sich und blätterte sich ein wenig durch die virtuellen Daten. Mal sehen, was ihm da in den Schoss gefallen war...
Prinzessin oder Bettlerin?
Es juckte ihm bereits in den Fingern und lächelte er beim Gedanken daran, sein Sezierbesteck - ein echtes Familienerbstück - wieder in die Hand nehmen zu dürfen. Selbstvergessen vollführte er präzise Schnittbewegungen mit einem imaginären Skalpell und wirkte wie ein Dirigent der voller Leidenschaft seinen Stab schwingt.
Dennoch irritierte ihn etwas gewaltig.
Wieso er?
Wieso hatten ihn seine Vorgesetzten hierher beordert?
Seine Prinzessin würde vielleicht einen netten Zeitvertreib abgeben, aber hätte das nicht jemand mit weniger Renommee machen können?
Andererseits empfand er den Aufwand beunruhigend, der unternommen worden war, um eine halbtote Kleinkriminelle ins Allerheiligste Genoms zu schaffen.
Nach den Ausführungen des Dossiers, rührte der komatöse Zustand von während des Crash 2.0 beim hacken erlittenen Schäden, die ihr die gesamte Headware ausgebrannt hatten. Ihre Cyberware konnte demzufolge nicht der Grund sein.
Vor allem, weil diese bereits schon entfernt worden war - man hatte hier in der Quarantänestation inzwischen alle Überbleibsel davon herausoperiert.
Neugierig öffnete er nun seine Aufgabenmappe und begann sie in der AR aufzufächern.
Der Umfang des Dossiers war beeindruckend. Nur schon die Untersuchungen umfassten das ganze Spektrum: Gentest, Haar- und Blutanalyse, Leberkontrolle; ja sogar einen Wischtest wurde verlangt.
Er begutachtete seinen zukünftigen Patienten nachdenklich.
Und wieso war es so wichtig die genetische Entwicklung all ihrer Organe und ihres lymphatischen Systems so präzise zu dokumentieren?
Vor allem der Untersuchungs- und Wertungskatalog für das Bursaäquivalente Organ ließ ihn stutzig werden. Dafür würde er Wochen, wenn nicht sogar Monate brauchen!
Überraschenderweise existierten für alle Untersuchungen computerunterstützte Näherungswerte.
Als wenn jemand ein Leben lang über diesen Patienten Buch geführt hätte - ohne zu wissen ob es ihn wirklich gibt. Doch diese Forschungen waren von höchster Stelle aus in Auftrag gegeben worden. Er hatte bloß Zugriff auf die nackten und unkommentierten Resultate.
Nun war seine Neugierde geweckt.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, und er musste seinen ganzen Einfluss und wissenschaftliche Reputation in die Waagschale werfen, bis er zumindest die Herkunft der mysteriösen Näherungswerte herausfand.
Doktor Schiffmann stockte der Atem.
Alessandro Rizzetti!
Professor A. Rizzetti - oder ‚Arize', wie er von Studenten und Doktoren gleichermaßen ehrwürdig genannt wurde - war eine absolute Koryphäe was die Hämatopoese und jegliche Leukämieforschung betraf. Noch jetzt profitierte Genom von unzähligen Patenten, die sie ihm zu verdanken hatten.
Mehrfach war er sogar für den Nobelpreis der Medizin nominiert gewesen. Aber es hatte nie geklappt - hauptsächlich, weil er zu Lebzeiten sehr viele ignorante Neider gehabt hatte.
So kam es sogar, dass einige davon - die ihn wohl wegen seiner innovativen und unorthodoxen Vorgehensweise in der Biogenetik anfeindeten - einmal eine derart heftige Kontroverse entfachten, dass er bereits schon in Stockholm angekommen war, als er erfahren musste, das der Preis ihm nachträglich aberkannt worden war.
Irgendwann gab Arize dann schließlich das Streben nach Anerkennung auf und kam zu Genom, um seine Träume zu verwirklichen. Doch hier entwickelte er leider mit den Jahren und dem zusammengekommenen Gram - sowie einer schon fast panischen Angst, jemand könnte seine Forschungen stehlen - eine derart wachsende Paranoia, dass er sich schließlich Headware implantieren ließ und seine Forschungsarbeiten wie in einem Safe einzig in seinem Headmemory verwahrte. Er ging einst sogar gerichtlich gegen eine wissenschaftliche Publikation vor, die einige seiner Thesen zitiert hatte.
So kam es, dass keine Abschriften oder Kopien seines Lebenswerkes existierten, als er 2064 von seinem eigenen Forschungscomputer getötet und seine gesamte Cyberware dabei gegrillt wurde.
Ein rabenschwarzer Tag für die Wissenschaft!
Doch seit damals hatte sich das Gerücht gehalten, dass auch seine grenzüberschreitenden Forschungen an Embryonen einzigartige Resultate erzielt hatten. Sein Genie sollte eine überlebensfähige Kreatur hervorgebracht haben, die es einst in die Wildnis da draußen geschafft hatte...
Bis heute war das bloß eine Legende gewesen. Dennoch hatten nicht wenige davon geträumt, durch dieses Geschöpf einen Blick auf das verschollene Wissen Arizes zu erhalten.
Harald Schiffmann hielt die Luft an.
Also gingen seine Vorgesetzten wohl davon aus, dass dies hier Arizes Schöpfung war - sein Vermächtnis und Meisterwerk!
Plötzlich fühlte er sich klein und bescheiden - behagte dies ihm zwar nicht; erfüllte ihn jedoch mit Stolz, in Arizes Fußstapfen treten zu dürfen.
Jetzt war alles klar, weshalb er hier war. Ein wohliges Gefühl erfüllte ihn beim Gedanken, dass er persönlich dabei sein dufte, als Arizes Kreatur endlich nach Hause gefunden hatte.
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung gewahr.
Harald Schiffmann schloss das Dossier und schaltete sein Kommlink aus.
Dann wandte er sich dem näher kommenden Stationsarzt zu. „Hallo Friedrich."
Dieser blieb kopfschüttelnd vor der Glaswand stehen.
„Hallo Doktor Schiffmann. Ich verstehe immer noch nicht, wie es möglich sein soll, dass unsere Systeme in unregelmäßigen Abständen Status-Updates ihres gesundheitlichen Zustandes eingespiesen bekommen."
Er verwarf die Arme. „Wir haben wirklich jedes letzte Stück Chrom aus dieser halbtoten Mieze rausgekratzt. Aber es wird jedes Mal als direkter Dateninput verzeichnet, als wäre sie mit funktionierender Headware eingestöpselt."
Dann musste er grinsen.
„Manchmal werden diese Daten von einem unzusammenhängenden Datenwirrwar überlagert, deren Herkunft wir bisher nicht eruieren konnten... wir haben diesen Datenmüll sogar einmal durch die Lautsprecher gejagt, und wissen sie was?"
Schiffmann schüttelte den Kopf.
„Meine Assistentin - sie wissen schon, die kleine mit den großen Titten und dem romantischen Tick - ist felsenfest davon überzeugt, dass das ein Miauen von der halbtoten Mieze da ist!"
Beiden Männer brachen in schallendem Gelächter aus.
So,
und hier noch der weitere Hauptdarsteller und das Ziel aller Bestrebungen...


▼ Was bisher geschah: [link]

▲ Fortsetzung: [link]




Background


AR steht hier für Augmented Reality und ist einfach die englische Benennung der anderorts schon erwähnten Erweiterten Realität.

Unter einem Wischtest versteht man das ab’wischen’ und ausführliche untersuchen des Schweißes.

Das Bursaäquivalente Organ ist bei Mensch und Maus das Knochenmark, bei Wiederkäuern die Peyerschen Platten des Darms und für viele andere Säugetiere ist es immer noch ungeklärt.

Die Hämatopoese ist die Bildung der Zellen des Bluts (Blutkörperchen) aus blutzellbildenden Stammzellen.



Dramatis personae


Harald F. Schiffmann
-Renomierter Arzt und Wissenschaftler in der GENOM-Arkologie.


Friedrich
-Stationsarzt der Quarantänestation.
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