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Der l. Flug des Greifen XVI

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Thereallobezno's avatar
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Basel, Birsfelden, Edellokal "Zum wyssä Hirsch", Frühling 2069

Im inneren des Lokals war das Licht gedimmt und es herrschte eine angenehme Ruhe. Zwei Männer waren gerade damit beschäftigt, von Tisch zu Tisch zu gehen, die Wachs- und Honigkerzen zu ersetzen und darüber neutrale Duftessenzen im Schenkraum zu verstäuben.
„Im Moment liegt uns noch keine offizielle Stellungsnahme der Basler Sicherheitsdirektion vor", war dabei einzig eine Radio-Stimme aus installierten Lautsprechern zu hören, „aber zumindest wurde von ihnen inzwischen elektronisch der Gefahrenstatus um eine weitere Stufe auf ‚unbedenklich' gesenkt. Und ebenso warten wir weiterhin gespannt auf eine offizielle Stellungsnahme aus der Arche!
Zwar mache ich mir nicht gerade Sorgen um unseren allseits beliebten Mediensprecher. Aber es ist nun mal so, dass es uns Basler Normalbürger eher beruhigt, wenn uns ein quicklebendiges Wesen aus Fleisch und Blut erklärt, dass keine giftigen Mittel ausgetreten sind und auch absolut keine Gefahr für die Zivilbevölkerung besteht, als wenn uns dies irgendein ominöser Server Genoms elektronisch per Wifi-Matrix um die Ohren haut…
Vor allem, wenn wir das Schreiben nur schon Augenblicke nach dem Shutdown in unseren Infoboxen hatten; mit der netten Überschrift, dass ‚alles unter Kontrolle' sei!
Aber ich glaube, dass inzwischen doch einige Zuhörer gerne wissen würden, wenn Genom schon von Anfang an alles unter Kontrolle hatte, weswegen ein Commuter im Rhein, neben der Dreirosenbrücke eine Notlandung hinlegen musste!"
Von den drei Frauen verschiedenen Alters, welche gerade an der Ausschanktheke mit Aufräum- und Reinigungsarbeiten beschäftigt waren, löste sich nun die Jüngste vom großen Trideoschirm an der Wand.
Darauf war gerade die Genom-Arkologie in ihrer ganzen Pracht zu sehen.
Darunter und darüber liefen rot pulsierende Spruchbänder, die im Minutentakt die neusten Entwicklungen zum Shutdown des riesigen Wohnkomplexes brachten. Und in einem separaten Ausschnitt zur rechten wurden augenblicklich auch Interviews und Kommentare unzähliger verängstigter Bewohner Basels eingeblendet. Hierbei überwiegte die Frage, ob so etwas wie in Seattle, mit der Renraku Arkologie, in Basel überhaupt möglich wäre.
Die knapp 18 jährige Frau, deren Haar von einem lebendigen und faszinierenden Braun war, wies nun auf den Trideoschirm.
"Wieso ist der Fernseher auf Stumm geschaltet und wir hören Radio Gryff?"
Im herrschenden Zwielicht schien das intensive Grün ihrer Augen von Innen heraus zu leuchten.
„Si Ilyana, das haben ich mich auch schon gefragt!"
Die sehnige Frau mit geschlitzten Pupillen und einem Meer an Sommersprossen im Gesicht, die gerade eine der Zapfsäulen am sauber machen war nickte zustimmend und wandte sich jetzt der dritten Frau zu, die von der anderen Seite her gerade die Schanktheke abrieb. Diese sah auf und wischte sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht. „Ach, das ist hier in Basel nun mal so üblich, wenn denen bei Genom wieder was um die Ohren geflogen ist..."
„Porque… warum?"
Ilyana war inzwischen zur Südamerikanerin an den Zapfsäulen gegangen und wuchtete die Metallschale für das Eis wieder in seine Verankerung, als sie ihre Mutter an der Schanktheke angrinste. „Wohl wieder so eine eurer speziellen Traditionen, nicht?"
Diese richtete sich kerzengerade auf und legte ihr Tuch beiseite. Und obwohl sie bereits über 50 war und die Jahren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen waren, strahlte dennoch jugendlicher Schalk aus ihren Augen. „Nein, dass hat dieses Mal nichts mit deinem Herr Vater zu tun. Es ist eher eine Art Vorsichtsmassnahme und…" sie überlegte kurz "auch eine Art Ritual nach der Nacht der Schande!"
„War das die ‚noche de la cólera' hier? Wie heißt das bei euch, die Nacht der… Wut?"
„Des Zorns", Ilyana neben ihr schüttelte den Kopf, als sie seufzend zum Trideoschirm zeigte, „nein. So nennen wir die Nacht, an dem Genom das Fundament für ihr Riesenmausoleum legte!"
Auf das fragende Gesicht der in einem hautengen Abendkleid gehüllten Frau, über den sie lässig eine Schürze trug, antwortete nun Tanja, Ilyanas Mutter.
„Cruz, als im Fernen 2029 der erste Crash wie die Apokalypse über uns hereinbrach; zerstörte dieser gottverfluchte Virus nicht nur unsere durch Computer durchstrukturierte und organisierte Welt," sie blickte zur Decke hoch, als müsse sie sich erinnern oder nicht wollte, dass man die Tränen in ihren eisblauen Augen sah, „sondern riss Pandoras Büchse den Deckel weg. Aus irgendeiner von Genoms Hexenküchen entwich damals etwas, dass man heutzutage euphemistisch KOFF-99 nennt!"
Inzwischen waren auch die zwei Elfen zur Theke gekommen und lehnte sich der eine, setzte sich der andere an, respektive auf einen der Barhocker. Die Duftzerstäuber behielten sie zwischen den Händen.
Es versprach zumindest wieder einmal interessant zu werden. Wie immer, wenn Tanja Gygax zu einer ihrer Erzählungen ansetzte.
Diese drehte sich ihrerseits zum Trideoschirm herum.
„Aus welchen Untiefen der neunmalverfluchten Hölle dieses Zeug auch kam, es verbreitete sich von Genoms Fabrikareal innerhalb weniger Stunden über Basel aus, mit verheerenden Folgen. Vor allem in der Altstadt…"
Sie hielt kurz inne.
„Gott, was würde ich geben, um das herrliche Rot des Rathauses wieder im Sonnenlicht genießen zu können!"
Währendessen hatte sich Ilyana kurzerhand ein paar Likörgläser geschnappt und schenkte jedem einen Schuss Grappa ein. Dabei antwortete sie mit einer beschwichtigenden Geste auf Cruz Ortiz de Domínguez fragenden Blick und das Zeigen auf ihren Hals.
„Ich kenne den heuchlerischen Polizeirapport über die Todesursache meiner Mutter in- und auswendig. Und es war sicherlich kein anaphylaktischer Schock, der ihr das Herz und die Leber herausriss. Geschweige den fehlenden Unterkiefer!"
„Mutter?" unterbrach sie hier Ilyana vorsichtig, hatte bereits ein Glas Chivas Regal für sie bereit gestellt.
„Nein, mein Juwel, „ sie wischte sich Tränen aus den Augen, „es geht schon. Ich… bin auch heute noch stark genug! Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Betroffenen, durfte ich mich von ihr verabschieden. Ich durfte noch kurz bei ihr sein und sie berühren, bevor man sie abfackelte."
Mit einem mitfühlenden Glühen in den Augen drückte ihr ihre Tochter das Whiskyglas in die Hand und umarmte sie. Tanja hob es hoch, „dank dir nochmals von Herzen Lukas Kyburz. Oh, Entschuldigung… ich sollte wohl eher The Rauracher sagen, dass war der Name auf den du ja so stolz warst und der dir in den Schatten so viel bedeutete. Dafür dass du damals mehr Menschlichkeit gezeigt hast als jeder Arzt diesseits oder jenseits der Lebenden bisher, " und leerte es in einem Zug.
„Da die Behörden nicht in der Lage waren, die Gefährlichkeit diesen giftigen Ausstoßes eines Höllendrachens einzuordnen, entschieden sie kurzerhand Nägel mit Köpfen zu machen und kremierten innerhalb von zwei Wochen, wofür Genom natürlich bereitwillig ihre Ressourcen zur Verfügung stellte, die knapp 1'000 Opfer dieses ‚Chemie-Zwischenfalles'. Inklusive ihrer Kleidung und all ihrer Habseligkeiten die sie zu jenem Zeitpunkt auf sich getragen hatten.
Die trauernden Zurückgebliebenen erhielten bloß die nackte Asche ihrer Geliebten zurück, obwohl das auch heute immer mehr in Frage gestellt wird. Scheinbar soll Genom die bloß als Füllmittel für die Arche-Sockel benutzt haben…"
„De Verdad!?!" entfuhr es darauf Cruz, als Ilyana ihrer Mutter etwas ins Ohr zischte.
„Na ja, " fuhr Tanja weiter, „manche behaupten es zumindest. Aber so wie mir ist, gab es keine Überlebenden. Damals wurde die ganze kontaminierte Zone abgeriegelt, ummauert und einen Deckel drauf gemacht. Zwar entschädigte uns die Basler Regierung dafür, erhielten wir auch ein fürstliches Schweigegeld von Genom. Aber nichts, was sich zu jenem Zeitpunkt in der Altstadt befunden hatte, wurde jemals verändert oder entfernt!
Genom konnte nicht oder wollte nie näheres über dieses KOFF-99 preis geben. Außer der Tatsache vielleicht, dass der Stoff eine Halbwertszeit von mehreren Jahrzehnten hat und sich wohl in den Strassen und den Hausfassaden angelagert hatte. Dabei war dieses Zeug hochtoxisch und es ist nie bekannt worden, wie viel davon genau nötig ist, um aus Menschen mordsüchtige irre Bestien zu machen!
Obwohl es auch heute noch offiziell heißt, dass man von diesem Hauch des Drachens an einem anaphylaktischen Schock stirbt," sie löste sich von ihrer Tochter und hob mahnend den Finger, „und das ist eine Tatsache! Die Basler Regierung, ja sogar die ganze SEg tut sich auch Jahrzehnte später noch schwer damit, zuzugeben, an was die armen gequälten Seelen damals starben!"
„Wegen dieser unverständlichen und starrsinnigen Haltung der Behörden, sich die Wahrheit vor einem so schrecklichen Ereignis einzugestehen, prägten damals die Medien den Begriff Nacht der Schande. Und der hat, wie du wohl siehst, auch heute noch seine Rechtfertigung!"
Damit beendete die junge Frau die Erzählung ihrer Mutter.
Während diese nun in nachdenklicher Pose vor dem Trideoschirm verharrte, spielte die Südamerikanerin nachdenklich mit ihrer nachtschwarzen Haarpracht. „Y que se hizo? Was hat man getan, um die Gefahr zu nehmen?"
Ilyana zuckte mit den Schultern, als sie wieder zur Theke zurück kehrte. „Genom hat sich die Vernichtung der KOFF-99 Bestände von der SEg in Gold aufwiegen lassen und sich wohl damit die Arche finanziert!"
„Que…"
„Und das Gebiet der verseuchten Altstadt billigst aufgekauft. Die Stadtregierung war heilfroh, dass sie nichts damit mehr zu tun hatte. Natürlich war hierbei an ein niederreißen des unförmigen, hässlichen Gebildes, dass zu Eindämmung diente nicht zu denken.
Und wohl aus der Verpflichtung heraus, einen Teil des Schadens an der Stadt wieder gut zu machen, fühlte sich irgendwann Genom berufen, das Stadtbild zu retten. Also knallten sie die Arche drauf!"
„Tu sagst, dass Fundamento ist immer noch toxische Zone?"
„Jup!"
„Wie ist Astralzone?"
„Fürchterlich", meldete sich darauf einer der Elfen zu Wort, als er sich wieder an die Arbeit machte, „du hast danach mindestens für eine Woche Alpträume!"
„Ahí no me llevan, eh chicos, " wiegelte darauf die Südamerikanerin heftig ab, „ich verzichte jetzt sehr gerne auf Besuch in Arca!"
Mit einem Grinsen registrierte Tanja dies, als sie zur Schanktheke zurück kehrte und das Glas abstellte.
„Was denkst du ist es dieses Mal gewesen, eh Chefin?"
Sie sah den südländischen Elf an und zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung…"
„Vielleicht war es ein Shadowrun?" meinte ihre Tochter.
Tanja wandte sich mit einem Grinsen zu ihr herum. „Kaum, heutzutage hat Genom das zu gut im Griff. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem Runnerteam so was Spektakuläres gelingt. Obwohl…"
Sie musste lächeln, schien für einen Augenblick abwesend zu sein und wirkte dabei sichtbar jünger. „Da gab es einen Runner, dem würde ich das blind zu trauen. Aber der ist leider Geschichte…"
„Tanja Karnonos Gygax!"
Augenblicklich schlug die Stimmung um.
Während Cruz sich in die Schatten drückte, griff Ilyana unter der Theke zur Schrottflinte und wichen die zwei Elfen so zur Seite, dass sie zum Zaubern ein freies Sichtfeld hallten.
Tanja ihrerseits räusperte sich, als sie sich dem Sicherheitsbeamten zu wandte. Sie so anzusprechen deutete darauf, dass er mit gröberen Problemen rechnete.
„Ja Tucson?"
„Hier ist ein Landstreicher der sich nicht abwimmeln lässt. Obwohl ich ihm klar und deutlich gemacht habe, dass wir erst in einer halben Stunde öffnen, will er unbedingt mit ihnen sprechen. Er behauptet er kenne ihren Herr Gemahl!"
„Ach wirklich? Wer…"
Noch während der Sicherheitsbeamte zur Seite trat und seinem Begleiter etwas sagen wollte, stürmte Tanja los.
„PIUS!!!"
Und unter den ungläubigen Augen aller Anwesenden warf sie sich dem Neuankömmling an den Hals und küsste ihn leidenschaftlich.
Der Sicherheitsbeamte konstatierte trocken „sie scheinen ihn zu kennen!" und ging, während von der Theke her das Bersten einer Flasche zu hören war, die Ilyana aus den Händen geglitten war.
Gryff hatte alle Mühe, die zierliche Frau von sich zu lösen und vor sich in der Luft zu halten. Zärtlich streichelte sie ihm jetzt über den Kopf, zuckten dabei seine Nickhäute heftig.
„Gott, ich musste gerade an dich denken. Was treibt dich hierher? Wirst du länger bleiben? Wie geht's dir? Ist alles in Ordnung?" ihr Blick wurde härter und ernster, „du hast Sorgen. Was ist, wie kann ich, wie können wir dir helfen?"
Der Mann stellte sie auf ihre Füße und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich bin hier, das Versprechen einzuziehen, dass ER mir damals gab. Tut mir aufrichtig leid, aber ich bin ansonsten mit meinem Latein wirklich am Ende. Und ich bräuchte für die nächste Tage eine Unterkunft…"
Für einen kurzen Augenblick verfinsterte sich ihre Miene und wirkte ihr Gesichtsausdruck verbissen.
Doch dann löste sich alles, ergriff sie verspielt seine Hand und führte ihn zur Treppe, die ins obere Stockwerk führte. „Für dich haben wir hier immer ein Zimmer zur Verfügung! Und ich glaube, mein Herr Gemahl wird förmlich frohlocken, dich wieder zu sehen. Das wird ihm wirklich gut tun!
Ansonsten erzähl. Wie schlimm ist es?"
Gryff musste schwer schlucken. „Hast du mal an Ferien gedacht?"
„Für ein paar Wochen?"
„Für mindestens ein Jahr, bis sich die Wogen wieder geglättet haben?"
So, kommen wir nun zu einigen weiteren, wichtigen Protagonisten meiner Story...
;-)


▼ Was bisher geschah: [link]

▲ Fortsetzung: [link]




Dramatis personae


Ilyana Karnonos Gygax
18 jährige Tochter des Lokalbesitzers.
Ihre Haare sind von einem lebendigen und faszinierenden Braun, während ihre intensiven grünen Augen von innen heraus zu leuchten scheinen.

Tanja Karnonos Gygax
Mutter Ilyanas und praktisch Geschäftsführerin des Lokals.
Eine zierliche 50jährige mit blondem Haar und eisblauen Augen.

Cruz Ortiz de Domínguez
Südamerikanerin und Sängerin/Unterhalterin des Lokals.
Besitzt geschlitzte Pupillen, nachtschwarzes Haar und ein Gesicht voller Sommersprossen.

Gryff
aka Pius Meyer Wettstein
- 57jähriger Runner mit keramikweißen Cyberarme.
(Sieht einiges jünger aus)
Hat braunes, von einigen silberblonden Strähnen durchzogenes Haar und schwarze Raubvogelaugen mit goldenen Iriden und milchigen Nickhäuten.
© 2011 - 2024 Thereallobezno
Comments9
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Yasariya's avatar
Tja, jetzt muss ich mich auch mal zu Wort melden.

SR und alles was dazugehört ist mir vollkommen unbekannt. Trotzdem ist deine Geschichte echt fesselnd :)
Interessante Charaktere, gut geschrieben...

Und ich bin echt beeindruckt, gibt es eine Sprache, die du nicht sprichst?
Bisher hab ich Französisch, Spanisch, Portugisisch und Italienisch(?) entdeckt (und natürlich Schweizerdeutsch)...
Dazu hab ich aber einen kleinen "Fehler" gefunden.
Aus welchem südamerikansichen Land kommt Cruz denn? In Argentinien verwendet man statt der 2.P Plural die 3.P Plural (Ich war in Argentinien, deshalb kann ich es dir für A. garantieren, aber soweit ich weiß, gilt das für ganz Südamerika). Deshalb müsste es also "Ahí no me llevan" heißen (statt: „Ahí no me llevéis, eh chicos, " wiegelte darauf die Südamerikanerin heftig ab, „ich verzichte jetzt sehr gerne auf Besuch in Arca!")
Llevéis ist natürlich Spanisch richtig, wird nur so in SA eben nicht verwendet. Ist mir auch nur aufgefallen, weil ich drüber gestolpert bin und mir das Wort so wie es war total unbekannt vorkam (seit ich in Argentinien war, ist die 2.P Plural aus meinem Gehirn verschwunden...)
Ob du es ändern willst, bleibt natürlich dir überlassen.


Bin mal gespannt, wie die Geschichte weitergeht :)
Bisher auf jeden Fall sehr fessenld!