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Der l. Flug des Greifen XIIa

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Zürich, Escher-Bürkli Insel, Frühling 2069

Lobezno schritt noch einmal den ihm zugewiesenen Parkplatz ab und fuhr dabei mit der Hand über die warme Motorhaube des Igels.
In der AR öffnete sich nun vor ihm ein Textfeld mit hektisch pulsierenden Passagen. Er beachtete diese nicht weiter und scrollte ans Ende.
Praktisch ging es in dem raffiniert verfassten juristischen Machwerk darum, dass man sich mit dessen Anerkennung dazu verpflichtete, bei einer möglichen Beschädigung des eigenen Fahrzeugs auf diesem Grund und Boden auf jegliche rechtsstaatlichen Maßnahmen für möglichen Schadenersatz zu verzichten!
Geduldig signierte er diese letzte Verzichtserklärung und bestätigte darauf erneut seine Identität.
Erleichtert seufzte Cris schließlich, als er sich ausloggen durfte und damit eine vierundzwanzigstündige Aufenthaltsberechtigung für sich und einem Gast auf der Escher-Bürkli Insel erhielt.
Zum Glück kam er mindestens einmal in der Woche hierher und kannte daher das mühsame Prozedere nur all zu gut.
Das Geschäftsviertel am nördlichen Teil der Insel glich zwar bereits schon einer Festung, aber mit der richtigen IDS oder SIN war das Betreten kein Problem. Und die hatte meistens jeder, der hierher kam um seine finanziellen Geschäfte abzuwickeln.
Das Wohnviertel dahinter; die Zwölf Türm, wie man sie in Zürich nannte, war jedoch ein ganz anderes Kaliber.
Hier residierte die Elite dieser Finanzmetropole. Und dementsprechend waren die Sicherheitsvorkehrungen.
Was mancher als Gefängnis ansehen konnte, war für andere eine Trotzburg vor den Unannehmlichkeiten einer unfreundlichen Realität da draußen.
Manchmal kam ihm dieser Ort wie ein anderer Planet vor.
Unbewusst fuhr er sich über seine buschigen Augenbrauen, als er über sein Kommlink in die externe Steuerung seines gepanzerten Mercedes wechselte. Hier überprüfte er routinemäßig ob alle Türen verriegelt, die Fenster geschlossen und jegliche Ports versiegelt waren. Dann fuhr er die aktive Sicherung aufs Maximum hoch.
Als wenn die hier nötig wäre.
Aber man wusste ja nie…
Nachdenklich folgte er in der AR noch der virtuellen Fahrspur, über die er hergekommen und die ihm vom System freigegeben worden war.
Eigentlich war es mehr eine Schikane als eine Sicherung; dass das Überwachungssystem auf den drei hier zur Verfügung stehenden Fahrbahnen jedem Besucher der hinein wollte, in der AR einen eigenen, präzise abgesteckten Parcours markierte.
Den galt es dann abzufahren, ohne die virtuellen Markierungen zu überfahren, wenn man keine Probleme bekommen wollte.
Bei der ersten Übertretung, erfolgte meistens eine höffliche Verwarnung durch einen Watcher. Überschritt man die Linie ein zweites Mal, wurde man darauf hingewiesen, dass es entschieden besser wäre, den Wagen anzuhalten und von einem Mitglied des Sicherheitspersonals zu Fuß an sein Ziel begleitet zu werden.
Überfuhr man die Linie schließlich ein drittes Mal, eröffneten die im Boden versenkten Selbstschussanlagen das Feuer!
Irgendwie leuchtete es ihm ein, dass die meisten Leute hier mit eigenem Chauffeur unterwegs waren.
Dann wandte er sich Gryff zu, der einige Meter entfernt vor einer imposanten Grünanlage stehen geblieben war und sich neugierig umsah.
„Also hier ist wirklich die Zeit stehen geblieben!" Meinte dieser nachdenklich. Dabei wies er zu mehreren Lokalen in der Nähe, die im klassischen Stil der '80 Jahre des letzten Jahrhunderts gehalten waren. Bei einer Cafeteria hing sogar noch eine echte Kreidetafel neben dem Eingang und verkündete in charmanter Handschrift die heutigen Spezialitäten und Preise.
Ein junges Pärchen näherte sich auf Fahrrädern. Gryff grüsste sie.
Während die Frau den Gruss verwirrt erwiderte, flackerte kurz Panik in den Augen ihres Begleiters und dieser stieg in die Pedale um rasch Abstand zu gewinnen.
Pius ging weiter zu einer beeindruckenden Hecke, in der einige fast schon schwarze Rosen in voller Blüte standen. Er roch interessiert an ihnen, als Cris zu ihm aufschloss.
„Ist es nicht zu warm für diese Jahreszeit? Ich hab auf der ganzen Insel keine einzige Flocke gesehen, obwohl es noch schwach schneite, als wir dein Büro verlassen haben!"
Lobezno zuckte mit den Schultern, als er ebenfalls eine der faszinierenden Rosen betrachtete. „Für jeden Feuerelementar, der hier Wache schiebt oder allgemein einfach nur herumlungern darf, kriegen die Studenten der magischen Abteilung der ETH eine staatliche Entlöhnung. Und da es weder für ihre Macht noch Anzahl irgendwelche Beschränkungen gibt; gilt dies bei den Studenten als die wohl einfachste Art und Weise, schnell und ohne viel Mühe sein Taschengeld aufzubessern. Natürlich gibt's mehr, je mächtiger der Geist ist.
Also werden täglich unzählige Elementare hierher beschworen oder deren Dienste verlängert. Und das wirkt sich nun mal mit der Zeit aus.
Vor einigen Monaten zählte ein Freund von mir zweiundreissig Elementare auf der Insel. Es soll Tage geben, auch im Winter, an denen man kurzärmlig spazieren gehen kann und man die Elementare, obwohl sie sich nicht materialisieren, sogar mit bloßen Augen wahrnehmen kann!
Allgemein gelten sie als Grund dafür, dass hier selten Schnee liegt und sich das Grünzeug so gut entfaltet!"
Keiner von beiden hörte sie.
Aber Gryff kam die Art und Weise, wie plötzlich die Luft um ihn in Bewegung geriet und verwirbelt wurde, all zu vertraut vor.
Instinktiv hob er deswegen langsam und mit offenen Händen die Arme über den Kopf, als er zu den zwei Einmann-Helis hochsah, die genau über ihren Köpfen lautlos herunter kamen.
Jeweils eine mehrläufige Minigun am Bug der Brämen war auf ihn und auf Lobezno gerichtet.
Dieser hielt seinerseits bloß die Faust hoch, aktivierte in der AR all seine Geschäftslizenzen und grüsste kollegial. Dann zeigte er auf Gryff. „Der gehört zu mir!"
Die Piloten nickten verstehend, überprüften kurz die Angaben und drehten dann ab. Rasch verschwanden sie wieder in die Höhe.
Gryff sah ihnen noch nach, wie sie um den nächsten Wohnblock verschwanden, als Lobezno bereits weiter gegangen war.
Er folgte ihm, kamen sie gerade an einem faszinierenden Wasserspiel vorbei, dass einem gewissen Tinguely gewidmet war und an denen vereinzelte Wasserstrahlen scheinbar der Schwerkraft zu trotzen schienen.
„Was ich an diesem Ort immer schon verstörend empfand", meinte Pius, „ist, dass ich mit Bestimmtheit weiß, dass in diesen Betonklötzen Familien leben. Und ich meine nicht nur einzelne Pärchen."
Er blieb kurz stehen und maß mit seinen Armen die ganze weite der Anlage ab, schloss dabei auch die zwölf monolithischen Türme ein. „Dennoch gibt es keinen einzigen Spielplatz! Und so prächtig die Grünanlangen auch sind. Die meisten dürfen nicht betreten werden. Vor allem; ich hab hier noch nie ein spielendes Kind gesehen."
„Jedes Hochhaus besitzt eine interne Kinder-Tagesstätte, sowie eigene Schulen. Des weiteren auch mehrere mehrstöckige, weitläufige Parkanlagen zu denen nur die Bewohner bestimmter Stockwerke Zugang haben. Dort sind sie dann ungestört und vor allem unter ihresgleichen!"
Lobezno zeigte dabei zu einer spezifischen Stelle, irgendwo um das dreißigste Stockwerk des Hochhauses zu ihrer Linken, an dem durch die Glasfront mehrere Bäume im Innern zu erkennen waren.
Gryff nickte nur, als sie an einer ziemlich bizarren Skulptur eines Drachens vorbeikamen, der einen Bär zertrat und einen Bullen fraß. Irgendwie hatte er Ähnlichkeiten mit Lofwyr.
Dann ging es zwischen den Skulpturen zweier mit Schwertern bewaffneter Engeln, die jeweils lässig eine kurzläufige T-250 im Gurt stecken hatten und eine Sturmkanone auf dem Rücken trugen die Marmorstufen zum Eingang eines der Hochhäuser hoch.
Gryff verwunderte es dabei nicht, dass alles aussah, als wäre es erst heute Morgen sauber gemacht und fertig gestellt worden. Kein Stäubchen Dreck war auszumachen, leuchtete alles förmlich vor Sauberkeit.
Lautlos glitten nun die gepanzerten Glastüren auseinander und traten sie in eine Vorhalle ein, die mehr an eine Konzerthalle, als den Eingang eines Wohnblocks erinnerte.
Nachdem Pius, auf ausdrücklichen Wunsch Lobeznos, seine Brille anbehalten hatte; erstarrte er jetzt förmlich, als wäre er in eine Wand gelaufen.
Die Flut an Informationen, die hier drinnen in der AR umgesetzt wurden, war einfach nur riesig!
Knapp unterhalb des Daches liefen auf zwei mannshohen Bildstreifen in Endlosschleifen gleichzeitig die aktuellsten Neuigkeiten aus aller Welt und aller möglichen und bekannten Sportarten ab. Trideo reihte sich dabei an Trideo.
Wobei die angefügten Icons und AROs darauf schließen ließen, dass man sich irgendeine beliebige Aufzeichnung runterholen und hier und jetzt detaillierter konsumieren konnte. Es war aber auch möglich, den Sender so mit dem eigenen Kommlink zu koppeln, dass dieser für die Dauer des Aufenthaltes im Gebäude in der AR aktiv einem überallhin folgte!
Im Zentrum der Halle verkündete dafür eine übergrosse, virtuelle Sprecherin mit leicht südländischen Touch die momentan wichtigsten Informationen zum globalen Finanzwesen. Dabei liefen auf der Säule, auf der sie thronte und die bis zum Boden reichte, abertausende von finanzspezifischen Daten und Transaktionen ab. Gryff wurde nur schon vom hinsehen schwindelig.
Den Wänden entlang gab es dafür spezielle AR-Shops, in denen man für ein Nachtessen oder Umtrunk auf der Insel den Tisch reservieren konnte, die verschiedenen Krippenplätze und nächsten Coiffeurtermine für einzelne Bewohner des Hauses bekannt gegeben wurden oder man vom Klempner über den Elektriker bis zu einem Masseur oder Psychoanalytiker sich alles ins Haus bestellen konnte.
Von den verschiedenen Lebensmittel-Nischenshops in den vereinzelten Stockwerken war das komplette Sortiment aufgeführt, konnte man sich hier daraus Artikel reservieren und entweder direkt in die Wohnung liefern oder zur persönlichen Abholung einpacken lassen.
Und dann war da noch diese unauffällige Ecke, die eine Altersangabe benötigte um sie überhaupt wahr zu nehmen.
Gryff stand immer noch wie angewurzelt dort und ließ das ganze auf sich einwirken, während Lobezno bereits zur Rezeption gegangen war.
Hinter einem Tresen, auf dem locker ein Bankett hätte abgehalten werden können, harrte eine atemberaubende Elfe in einer stylischen Fantasieuniform aus, die ihn überschwänglich anstrahlte und freundlich begrüßte.
Cris grüsste nur förmlich.
„Ist Thomas da?"
Inzwischen schloss Gryff wieder auf.
Völlig fasziniert war er momentan mit dem passwortgeschützten Verzeichnis für Callboys und Escort-Damen beschäftigt, über das er gestolpert war. Der grosse Durchschnitt davon waren menschliche Frauen aus dem Osten oder Südamerika und männliche Elfen. Nur schon die Preise waren erregend; vor allem Furcht erregend.
Eine zierliche Frau mit Augen aus Eis und einem Gesicht wie aus allerfeinstem Porzellan verlangte für ein Schäferstündchen, ‚dass einem stets angenehm in Erinnerung bleiben würde' etwa den Gegenwert eines Jackrabbits. Und sie war noch preiswert, verglichen mit anderen!
Aber was er vor allem faszinierend fand war die Ork-Domina Dolores. Selbst für eine Orkfrau sah sie verdammt hässlich aus!
Gab es echt Leute, die sich anstatt einen Rover Geländewagen zu leisten; sich einmal von Dolores in die Mangel nehmen liessen?
Kopfschüttelnd blieb Gryff neben Lobezno stehen, als sich ein Koloss von einem Troll - in der gleichen Uniform wie die Elfe - durch eine Schleuse hinter der Rezeption zwängte und zu ihnen kam.
Kurz folgte eine gegenseitige Begrüßung zwischen den beiden Neuankömlingen und Larissa, sowie Thomas, die beide ehemalige Mitglieder der Zürcher Garde waren.
Ein kollegiales Gespräch entwickelte sich schließlich, als Larissa darauf bestand, Gryffs Augen zu sehen und anschließend völlig von seinen Nickhäuten fasziniert war.
Bis Thomas sich Lobezno zuwandte. „Du bist wegen ihm hier?"
Der Tonfall der Beiden wurde ernster.
„Ja, eigentlich hatte ich erst vor morgen zu kommen. Aber im Moment braucht mein Freund hier jemanden mit seinen Talenten. Also dachte ich, bringe ich ihn mal her…"
„Hälst du das für eine gute Idee?"
Lobezno verzog das Gesicht „Jetzt da du so fragst… nicht wirklich."
Beide sahen sich nachdenklich an, während Gryff irgendwie das Gefühl nicht los wurde, dass ihm irgendetwas entging.
Thomas wandte sich darauf zu Larissa. „Isolier den achten Stock komplett ab. Lass ihm zwar den Rest, aber kopple seine Wohnung von unserem System ab!"
„Aber dann wird er doch wissen, dass ihr wegen ihm kommt?"
Der Troll sah wieder zu Lobezno hinunter. „Als wenn er das nicht schon wüsste..."
Dieser wandte sich noch einmal Gryff zu. „Du hast hoffentlich nichts dabei, oder?"
„Ich bin sauber; wie abgemacht. Habe ja meinen Seesack deswegen auch in deinem Büro in Hollys Obhut gelassen. Nur meine Brille…"
„Versteck die lieber!"
„Ok?"
Thomas seufzte schwer, als er sich noch einmal Larissa zuwandte, „halt die Stellung Mädchen, wir zählen auf dich!" und dann los ging.
Gryff und Lobezno folgten, während ihnen die Elfe beide Daumen entgegen streckte.
Kurz blieben die Drei vor den insgesamt sechzehn Lifttüren stehen; wechselten Lobezno und der Troll einen langen Blick.
„Laufen?"
„Laufen!"
Und gingen in Richtung Treppenhaus.
„Wo wohnt er denn überhaupt?" fragte Gryff neugierig.
„Im achten Stock." antwortete Thomas.
Gryff sah darauf irritiert zurück. „Wieso laufen wir dann?"
Wieder sahen sich beide lange an.
„Kein Kommentar," kam es unisono, als sie die Treppen in Angriff nahmen.
Da wären wir schon mal...
;-)


▼ Was bisher geschah: [link]

▲ Fortsetzung: [link]




Dramatis personae


Gryff
aka Pius Meyer Wettstein
- 57jähriger Runner mit keramikweißen Cyberarme.
(Sieht einiges jünger aus)
Hat braunes, von einigen silberblonden Strähnen durchzogenes Haar und schwarze Raubvogelaugen mit goldenen Iriden und milchigen Nickhäuten.

Lobezno
aka Cris
- Südländer. Ein großgewachsener, ein wenig korpulenter Endvierziger mit buschigen Augenbrauen.


Thomas
Sicherheitsangestellter der Zwölf Türm
-Troll und ehemaliges Mitglied der Zürcher Garde.

Larissa
Sicherheitsangestellte der Zwölf Türm
-Elfe und ehemaliges Mitglied der Zürcher Garde.
© 2011 - 2024 Thereallobezno
Comments2
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NikitaTarsov's avatar
Ja doch - die Beklemmung und Entfremdung kommt spürbar rüber:giggle: