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Der l. Flug des Greifen 2-XXXIV

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Gedankenversunken eilte Pius Meyer Wettstein durch eine Besucherpassage der Arche.
Dabei folgte er einer beeindruckenden Fensterfront, welche direkt am Fußboden ansetzte und bis zur fünf Meter darüber liegenden Decke eine atemberaubende Aussicht auf den Rhein und der nördlichen Seite der Stadt bot - auch wenn das Wetter heute nicht so richtig mitspielen wollte. Irgendwie schien es, als würde es so kurz vor Ostern wohl wieder Schneefälle geben.
Unzählige AROs machten währenddessen an allen möglichen und unmöglichen Stellen des Fensters auf ziemlich aggressiver Art und Weise Werbung für die baldigen Oster-Sonderverkäufe in der Arche.
Dahinter, am wolkenverhangenen Himmel, waren vereinzelte Brämen und Werbe-Luftschiffe auszumachen, während auf dem Rhein sich gerade ein robotgesteuerter Transportkahn der Vereinigten Niederlande der Arkologie näherte.
Trotz der angenehmen Raumtemperatur fröstelte es Pius. Denn er hatte wirklich nicht erwartet, dass der Anblick ihm so fremd sein würde. Er erkannte kaum ein Gebäude mehr da draußen - praktisch nichts mehr. Es war nicht mehr das Basel, in dem er aufgewachsen war und in dem seine Wurzeln lagen.
Gryff fühlte sich momentan absolut fremd hier.
Eine unangenehme Resignation machte sich breit.
Es stimmte wohl schon, was das bündnerische Mädel vor ein paar Tagen über ihn gesagt hatte, als ihn Verena aufgesucht hatte:
Dass er eine von der Zeit vergessene Reliquie sei.
Resigniert blickte er nach vorne und versuchte sich abzulenken.
Zwar waren in dieser Passage wie üblich um diese Tageszeit wenige Leute unterwegs. Aber das bedeutete nicht, dass sie menschenleer wäre, geschweige denn ruhig. Denn abgesehen von einigen Wartungsdrohnen und die üblichen Pinkel, fiel jetzt vor allem eine Person auf, die unüberhörbar und wohl wegen ihrer Gestik auch unübersehbar war. Sie kam Pius direkt entgegen.
Der leicht füllige Mann trug einen schrill bunten Trainer, der voller AROs war, welche praktisch gleichzeitig für alle Fitnesscentern der Arche Werbung machten - was klar für ein Werbegeschenk sprach. Er war mit einfachen Wegwerfsportschuhe unterwegs, während er lautstark ins Leere brüllte und dabei mit den Händen herum fuchtelte, als befände er sich gerade in seinem Schlafzimmer und nicht in einer öffentlichen Passage der Arche.
„Isch mir jetzt Schiss egal, was du mit dä andere Schlampe abgmacht hasch!“
Zornig drohte der Mann mit seinem Zeigefinger einer imaginären Person, die in der AR für ihn wohl gut sichtbar war. Irgendwie schien er dabei nicht außer sich, eher als wäre dies normal und alltäglich für ihn.
„Ich ha dich g’hüratet und halt dich au us … ohne mich bisch nüüt! Also sorg g’fällig dass s‘Znacht uf em Tisch isch und du mini Prinzässin hüt Abig us dä Tagesschuel holsch!“
Die Antwort, die er hierauf erhielt, war wohl nicht die erwartete. Denn der Mann verengte zornig die Augen und blickte beim Gehen zuerst gekränkt weg. Schließlich riss er sich sichtlich zusammen, bevor er wutentbrannt herumfuhr und sich hierbei seine Stimme förmlich überschlug. „Blödi Chue … und jetzt uff drachisch: Du weißt ganz genau, dass deine Fotz…“
Bloß auf seine Worte fokussiert, lief er geradewegs in Gryff hinein, der beim Gehen geistesabwesend etwas durch die Fensterfront fixierte.
Der Zusammenstoß der beiden war so heftig, dass es den Mann um seine Achse wirbelte und er ins Straucheln geriet, bis er wieder das Gleichgewicht finden konnte. Pius dagegen knallte gegen die Glaswand und wäre fast hingefallen, hätte er sich nicht daran abstützen können.
Sofort entschuldigte er sich besorgt beim Mann im Trainer, der sich gerade verunsichert seine rechte Schulter rieb. Dieser reagierte ziemlich ausfällig. „Blöde Siach, hasch Tomate uff de Augä? Zieh doch dini blödi Brülle uss!“
Als sich nun Pius höflich um das Wohlergehen des Mannes erkundigte und dabei auch noch anbot, die hiesige Permanence - die AR-Arztpraxis dieses Stockwerkes – aufzusuchen, falls sich der Mann nach dem Zusammenstoß unwohl fühlen sollte, starrte dieser ihn zuerst ungläubig an und war für einen Atemzug lang still.
Erst jetzt drehten sich einige Passanten neugierig ihnen zu.
„Heb schnuure!“ brüllte plötzlich der Mann im Trainer seine unsichtbare Frau in der AR an und drohte ihr sichtlich. Gleichzeitig warf er Pius einen vernichtenden Blick zu und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Hierbei schaffte er es sogar, seinen Bauch einzuziehen.
Die Passanten gingen weiter.
„Ich bruch nüüd!“ kam es trotzig über seine Lippen, dann drehte er sich herum und ging weiter. Dabei rief er Pius noch etwas zu. „Hau ja ab! Chasch froh si, dass ich hüt guet druf bin, suscht hät ich d’Sekuritii cho la!“
Sich weiterhin die Schulter reibend ging der Mann weiter und schrie wieder auf seine Gattin vor sich ein. „Hör doch uf flenne! Das gester hasch der verdient. Nei, isch mir egal ob du jetzt es Veieli häsch …“

Unruhig ging Christopher Peiry vor der Glasfront der Kontrollzellen für die Navigationsliegen der Neun hin und her. Unschlüssig warf er hierbei einen Blick auf den halbleeren Kaffeebecher vor einem wahren Platoon an leeren Bechern auf einem Pult neben den Kontrollmonitoren. Er fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar.
Dann betrachtete er niedergeschlagen sein Spiegelbild, überprüfte noch einmal in der AR seine medizinischen Daten und versuchte eines der Kontrolldossiers einer seiner Matrix-Personas aufzurufen. Mit einem unangenehmen Kratzgeräusch und einer hässlich blinkenden Warnung blieb es jedoch auch dieses Mal bloß beim Versuch.
Er ließ die Schultern hängen und brachte nur ein niedergeschlagenes „Gabriel?“ über die Lippen.
Die Stimme, die aus der AR antwortete, klang gestresst. „Noch nichts Kumpel, wir sind momentan immer noch am Rauslöschen aller verdammten Marker, die du dir eingefangen hast. Kommen immer noch an keine deiner Personas heran. Und das geht leider nicht so schnell, wenn man bedenkt, was wir auch noch so um die Ohren haben. Tut mir leid!“
Christopher seufzte schwer, als er die Stirn gegen das Glas drückte.
„Und über diese Aristokatze?“
„AristoC.A.T.!“ Es schien, als klänge sogar Respekt in der Stimme mit. „Du gibt’s dich wohl auch nicht mit jedem Gegner zufrieden, eh. Es handelt sich um eine wahrhaftige Matrix-Legende. War noch vor unserer Zeit, mein Junge, die aber beim Crash 2.0 gegrillt wurde. Der, oder die betreffende war so gut, dass GENOM irgendwann davon abkam, diesen Hacker eliminieren zu wollen und sogar ein Expertenteam zusammenstellte, welches ihn für unsere Mannschaft hätte rekrutieren müssen. Hab sogar von Sergej gehört, dass einer der ausschlaggebenden Gründe für die Tatsache, dass in der Arche immer neun Spinnen aktiv sein müssen, diese AristoC.A.T. war!“
In der AR erwachten nun hektisch pulsierend mehre rote Anzeigen zum Leben, während man über den Displays der verschiedenen Liegen seiner Freunde sehen konnte, wie deren Pulsschlag markant anstieg.
„Sorry … scheint als hätten wir diese verdammten halbiberischen Arschficker endlich!“
„Viel Glück!“ murmelte Christopher ehrlich. Denn auch ihm war bewusst, dass es wirklich Zeit wurde, dass diese ausländischen Hacker endlich Respekt vor Genom zu haben lernten. Kurz grinste er.
Ihre ‚Men in Black‘, wie man hier allgemein das Genom Sicherheitsschwadron nannte, welche außerhalb der Arche die Interessen des Konzerns auf den Straßen Basels verteidigten, würden diesen Chaoten die Rechnung schon präsentieren.
Christopher wandte sich dennoch enttäuscht ab.
Was ihn betraf; ihm war übel. Denn er konnte physisch die Entzugserscheinungen verdammt gut spüren, dass er nicht mit seinen Brüdern in der Matrix mitkämpfen konnte.
Irgendwie war es für diese AristoC.A.T. gut, dass sie bereits tot war. Sonst hätte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und wäre sogar ans andere Ende der Welt gereist, um ihr, ihm, das blöde Köpfchen abzureißen. Das scheußliche Miauen hallte ihm noch in den Ohren nach-
Er seufzte schwer.
Nein, blöde war sie wahrlich nicht gewesen. Denn die Falle, in die er getappt war, war eigentlich sogar wirklich brillant gewesen. Und leider wegen Mathis Iselins Restriktionen äußerst erfolgreich.
Was hatte sich dieser Kerl wohl dabei gedacht, als er ihnen ihre Rechte derart beschnitten hatte?
Dem CEO der Arche war wohl jedes Mittel recht, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Wie viele Male hatten sie von ihm schon gehört, dass sie mehr kosteten, als sie in Wirklichkeit leisteten.
„Hat dich aber im Moment mit heruntergelassenen Hosen erwischt …“ Meinte er zu sich selbst, als in der AR vor ihm das Logo der Sicherheitskräfte der Arche heftig zu blinken begann. Und das bedeutete etwas ganz bestimmtes.
Er schöpfte wieder Hoffnung.
Vielleicht war doch nicht alles verloren.
Denn wenn es ihm gelingen sollte, Mathis den Kopf Gryffs vor die Füße zu werfen, dann würde dieser sich wohl oder übel bei ihnen, und vor allem bei ihm, entschuldigen müssen.
Mit einem bösartigen Grinsen aktivierte er den Kontakt zu Frederique Garçon.
Die Informationen, die sie von der Sennentuntschi Tattoo Bar erhalten hatten, waren mehr als eindeutig gewesen. Und es nützte diesem Gryff auch nichts, dass er sich jetzt Lucas Thale Werro nannte und mit getarntem Identitätsensor unterwegs war. Alle Spuren konnte auch einer wie er nicht verwischen.
Christopher holte tief Luft.
Zusammen mit der Beschreibung, die sie von dem Angestellten der Bar erhalten hatten, war es ein leichtes gewesen, ihm Garçon und seine Mannen hinterher zu schicken. Denn es gab keinen Ort in der Arche, in dem sich dieser ‚Gryff‘ vor ihnen hätte verstecken können.
Er fuhr sich nervös durch das Haar.
Und dank der fehlerlosen Rasterfahndung mit allen von den Überwachungssensoren der Arche zur Verfügung stehenden Daten, war es nur eine Frage von Minuten gewesen, bis seine Brüder ihn entdecken würden. Oder wie in diesem Fall, von Sekunden.
„Zugriff erfolgt!“ bestätigte ihm jetzt Frederique die erfreuliche Tatsache. Und während nun Christopher Peiry fühlte, wie ihm eine tonnenschwere Last von den Schultern fiel, erschien vor ihm das Bild, wie Frederiques Leute seine Beute erfolgreich Dingfest gemacht hatten und sie mit gezückten Waffen niederhielten. Einer von ihnen legte ihr gerade Handschellen an.
Zwar tobte dieser sogenannte Lucas - oder sollte er Gryff sagen - wie ein Wahnsinniger, aber es war unverkennbar. Sie hatten ihn!
Endlich …
„Sir?“
„Ja Frederique?“
Christopher Peiry war im siebten Himmel.
„Das Target hat keine Cyberarme!“
„Doch … sieht ihr es nicht?“
Plötzlich fühlte er einen Frosch im Hals und hatte eine Vorahnung.
Doch als die Kamera näher zoomte, konnte es der Sicherheitshacker klar und deutlich sehen. Ebenso hörte er Gryff auch klar und deutlich. „Ich haa nüt g’macht! Ich bin uunschuldig! Haa Frau und chind!“ Schrie dieser unentwegs.
Gerade als er Frederique anfahren wollte, fiel Christopher das schwache, irritierende Glimmen auf dem Körper des Runners auf, dass für ein geschultes Auge eigentlich ein untrüglicher Beweis war.
„Was seht ihr?“ fragte er nervös.
„Einen leicht korpulenter Mann in einem farbenfrohen Trainer. Er trägt Wegwerfsportschuhe. Ich würde ihn auf die 30 schätzen.“ meinte der Security-Mann irritiert. „Sir, das ist nicht das Bild, welche unsere elektronischen Augen aufzeichnen.“
„Ein Realitätsfilter?“
„Sagen Sie mir das“, erwiderte Frederique Garçon, „wie ist das hier in der Arche möglich, wenn ihr … wenn die Neun darüber wachen?“
Christopher Peiry lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab, als er realisierte, dass diese so offensichtliche Matrix-Manipulation keinerlei Alarm auslöste. Denn dafür musste der Filter praktisch in der Netzarchitektur der Arche verankert sein, was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war.
Wieso war das keinem von ihnen aufgefallen?
Wie konnte das einfach so unbemerkt bleiben?
Außer …
Es war ihm, als hörte er irgendwo eine Katze miauen.
„Bingo!“
Er sah zu Frederique Garçon, wie dieser triumphierend einen GENOM Identitätsensoren- Scanner dem liegenden Mann schmerzhaft in den Oberarm drückte. Laut Anzeige löschte er gerade den ID des Mannes, was ohne gerichtliche Zertifizierung absolut verboten war. Aber in diesem Fall …
Plötzlich poppte eine komplett andere ID des Mannes auf, welche bisher unterdrückt worden war.
Diesmal stimmten die Daten überein, passten auch zum Festgenommenen, der inzwischen nur noch winselte und dabei stets davon sprach, dass er seine Frau umbringen wollte und er nichts dafür konnte, dass er manchmal sehr aufbrausend war.
„Wie hat er das gemacht?“ meinte währenddessen Frederique verunsichert, als Christopher vor sich, dank der eingelesenen und gelöschten Daten des gefälschten Identitätsensors, in der AR die Bestätigung erhielt, dass es sich dabei um illegale MilTech handelte.
Und was für welche.
„Aber das Ding ist nur auf kurze Distanz effizient und eigentlich passiver Natur. Er scheint nicht in der Lage zu sein, alle Sensoren zu täuschen. Wie dann?“
Christopher Peiry blickte frustriert in die Höhe und verfluchte zum x-ten Mal einen gewissen Hacker. Dabei versuchte er sich nichts anmerken zu lassen, als er sprach.
„Da wir jetzt auch keine positive Kennung mehr von der Gesichtserkennungssoftware zu erwarten haben, können wir uns wohl nur noch auf rein optische Geräte verlassen. Das gilt leider auch für Cyberaugen … treffen sie bitte dementsprechenden Massnahmen!“
Irgendwie wusste er nicht, ob er diesen Gryff jetzt hassen oder bewundern musste.

Pius rückte sich kurz seine Sonnenbrille zu Recht und folgte weiterhin dem darauf aufgezeigten Pfad in der AR, der ihn um allen Ärger herummanövrieren sollte.
Als er kurz zu einigen Kampfdrohnen hochsah, die an ihm vorbei flogen, war er sich sicher, dass sie bisher immer noch keine brauchbare Spur von ihm hatten.
Mal sehen, ob er es wirklich bis ins Freie schaffte.
Bei diesem Gedanken überprüfte er nervös, ob er ein altes, vergilbtes Foto noch bei sich hatte.
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