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Der l. Flug des Greifen 2-VIII

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Lausanne, Frühling 2069

Langsam, mit der gemächlichen Lethargie, die ihm schon seit Jahren eigen war, näherte sich Jean-Philippe Garand der unscheinbaren Türe in einem maroden Seitengang eines heruntergekommenen Treppenhauses.
Gekleidet war er in einem seiner teuersten, anthrazitfarbenen JP Anzüge.
Und so war er bedacht, allem Dreck und Müll aus dem Weg zu gehen.
Gleichzeitig versuchte er auf dem Fussboden, unter all dem Abfall, dem herabgefallenen Putz und den unzähligen Zeitungsresten diejenigen Kacheln auszumachen, unter denen die zwei hochfahrbaren Miniguns eingelagert sein sollten.
Doch auch wenn er erstmals aktiv danach suchte, fiel ihm nichts auf.
Wenn er an die Schilderung Sébastiens dachte, war hier vor knapp einem halben Monat einer der Übernahmepläne der hiesigen Vory zu einem ziemlich blutigen und tödlichem Ende gekommen.
Sogar die Wände, mit ihren herabfallenden Tapeten und den vereinzelten, mehrschichtigen Graffitis sahen uralt aus. Und erst recht die Decke…
Dabei hatte ein Teil davon nach dem Angriff wohl wie ein Schweizer Käse ausgehsehen und war förmlich in Blut getränkt gewesen!
Aus den Augenwinkeln nahm Jean-Philippe eine Küchenschabe wahr; identifizierte die Smartcam-Funktion seiner Kombat-Brille in der AR Sensoraktivitäten aus dieser Richtung.
Wohl eine Drohne.
Vor dem bizarren Graffiti eines Trolls (mit Hauer, die ihm über die Stirn reichten), der mit einem Spülbecken auf einem Wasserwerfer der hiesigen Sicherheitskräfte eindrosch, blieb der ältere Mann kurz stehen und blickte noch einmal zurück zu Alain Rivière Kopa, einem der fähigsten Rigger der Phénix Sécurité.
Und heute sein persönlicher Chauffeur.
Der hochgewachsene Mann lächelte ihm freundlich von der Türschwelle des Eingangs zum Treppenhaus zu.
Und zum allerersten Mal seit Jahren, dämmerte Jean-Philippe, dass vielleicht mehr als die paranoide Kontrollsucht seines Sohnes dahinter steckte.
In den öffentlichen Medien war heute Morgen mit keinem einzigen Wort der Tod Amandine Hillion-Guillemins erwähnt worden, während sich dafür in der Hacker-Szene Lausannes wieder einmal Panik breit machte.
Aber vor allem ein Zitat, welches er auf der Fahrt hierher aufgeschnappt hatte, machte ihm immer noch zu schaffen:
„Sie suchen immer noch Le Dernier. Es ist das Exempel das sie statuieren und den Todesstoss, den sie uns verpassen wollen!"
Dann war er vor der uralten Holztür angelangt, dessen Sichtfenster an den zersplitterten Teilen notdürftig mit Universalklebband repariert war. Dahinter waren die alltäglichen Geräusche einer hier lebenden Metamenschenfamilie dieses heruntergekommen Ghettos zu hören.
Jean-Philippe streckte die Hand mit seinem IDS vor und wartete geduldig vor einer unsichtbaren Abgrenzung, die von einer mit Kinderhand auf dem Boden gemalten roten Spinne angedeutet wurde.
Kurz flackerte das Licht im Gang.
Dann fuhr lautlos eine knapp eineinhalb Meter grosse Platte der linken, an der Türe angrenzenden Wand beiseite und gab den Blick auf einen sauberen, hell erleuchteten Gang frei.
Der Mann blickte noch einmal zu seinem Chauffeur  und dieser bestätigte ihm mit einem zuversichtlichen Nicken, dass er zur Stelle sein würde, wenn es wieder Heimwärts gehen sollte.
Also trat Jean-Philippe in den Gang.
Kaum wahrnehmbar schloss sich der Durchgang hinter ihm wieder.
Als nun die Luftumwälzung kurz hochgefahren wurde, näherte sich ihm eine scheibenförmige Minidrohne und positionierte sich seitlich über seinem Kopf. Während sie die Daten seines IDS las, empfing sie ihn mit einem überfreundlichen: „Willkommen in der Clinique ESPOIR, Herr Garand. Es ist uns eine grosse Ehre, sie hier bei uns zu haben! Folgen sie mir bitte."
Also folgte der blondhaarige Mann der Drohne durch den Gang; bis zu einer grossen Schleuse, die sich knapp zwanzig Meter weiter vorne befand.
Die ganze Einrichtung erinnerte gleichzeitig an ein Spital und einem Wissenschaftslabor. Die trockene Luft war schon fast zu sauber, wie auch die blütenweisse Wände, Decke und der Fussboden, in dem man sich fast spiegeln konnte.
Verschiedenfarbige, breite Farbbänder markierten bereits hier schon den Weg zu den verschiedenen Abteilungen, während in der AR noch unzählige Datenbildschirme und wählbare Terminals auszumachen waren, mit denen man sein Anliegen präzisieren konnte. An zwei weitläufige Nischen für Kampfdrohnen vorbei erreichte Jean-Philippe nun einen Mann in schwerer Vollpanzerung, der seinen Helm bereits abgenommen hatte und steif salutierte. „Herzlich willkommen Herr Garand!"
„Darf ich eintreten?"
„Natürlich!"
Der Sicherheitsbeamte sprang förmlich beiseite, als sich das Schleusentor mit einem Zischen öffnete und Jean-Philippe, zusammen mit der Drohne in den Aufzug trat.
Er glättete sich noch den Anzug, als der Lift förmlich die zehn Stockwerke der Anlage in die Tiefe fiel.
Als sich die Türe öffnete, wartete Mylona Ivy Tofalos bereits auf ihn.
Er zögerte kurz, als ihm erst jetzt auffiel, dass das knapp sechszehnjährige Orkmädchen zu einer stattlichen Frau herangereift war. Der Laborkittel stand ihr perfekt und selbst ihre verhältnismässig kleinen Hauer waren die strahlendsten, die er jemals bei einem Ork gesehen hatte. Und in ihren Augen strahlte ihm eine Besorgnis entgegen, die Verlegenheit aufkommen liess.
„Alles in Ordnung Sir? Geht es ihnen wieder besser?"
Hatte er die letzten Jahre überhaupt gelebt?
„Ja Ivy, es war wirklich nur ein leichtes Unwohlsein. Aber ich fühle mich im Moment immer noch ein wenig schwach. Wird aber wohl nichts Schlimmes gewesen sein!"
„Das hat der Doktor zu entscheiden, " antwortete sie ihm mit einer Entschlossenheit, die ihm erstmals angenehm auffiel, „soll ich sie stützen?"
Verwirrt blickte der Mann das Mädchen an und brauchte einen langen Augenblick um zu begreifen, wie sie den Ausspruch wirklich gemeint hatte.
Während sich jetzt sichtbar Angst in ihre Augen schlich, atmete er kräftig durch.
„Nein, mein Kind. Vielen Dank für das Angebot. Aber ich will mich heute Morgen wirklich nicht noch älter fühlen als ich es jetzt schon tue!"
Er zwinkerte ihr dabei zu und sah wie ihre Augen erstrahlten.
„Wenn sie etwas brauchen, sagen sie es mir bitte. Ich bin heute nur für sie da!"
Stumm nickte Jean-Philippe  und warf einen Blick auf den Timer seiner Brille „Hat Doktor Bernard Borel sonst noch einen anderen Patienten oder hat er wegen mir schon reklamiert? Tut mir wirklich Leid wegen der Verspätung. Aber wissen sie, der Verkehr. Und ich bin auch nicht der schnellste…"
Ivy schien einen Augenblick lang verwirrt, blickte dabei verdutzt den Mann an, als würde sie ihn zum ersten Mal wirklich bemerken. Sie haderte kurz mit den Worten, bevor sie ein schlichtes „ach, ist ja nicht so schlimm wegen der paar Minuten", antwortete.
„Fast ganze zehn Minuten…"
Das Orkmädchen bekam es scheinbar wirklich mit der Angst zu tun, als sie sich mit einem unsicheren Lächeln umdrehte. Bisher war es sie sich gewohnt gewesen, dass der Vater Sébastiens ein missmutiger alter Kauz gewesen war, der niemand an sich heranliess und niemals Rücksicht auf jemanden anders genommen hatte…
„Bitte folgen sie mir und hören sie bitte auf, sich noch weiter Gedanken darüber zu machen. Es ist schon in Ordnung!"
Es musste ihm wirklich schlecht gehen!
Sie folgten dem orangenen Band an mehreren holografischen Monitoren vorbei, in denen die neusten Errungenschaften der Medizin und der Biokybernetik vorgestellt wurden. In der AR waren auch in regelmässigen Abstände Anzeigen aufgegleist, die auf vielfarbigen Karten die momentanen Konzentrationen der verschiedenen Gangs in der Stadt anzeigten oder wo gerade die Phénix Sécurité im Einsatz war. Dabei markierten Sicherheitskodes die Gefährlichkeit des Einsatzes und die notwendige Bereitschaft eines medizinischen Teams.
Schliesslich musste Jean-Philippe grinsen, als sie an einem der Warteräume vorbei kamen, in dem ein Grossbildschirm auf einem der Klassik-Spartensender geschaltet war, in dem durchgehend nur Tom & Jerry Zeichentrickfilme gezeigt wurden.
Im Moment konnte man gerade sehen, wie Tom, in einem Loch festsitzend, aus dem nur noch sein Kopf herausragte, von Jerry mit einem Queue brutal auf den Kopf geschlagen wurde. Als er vor Schmerzen aufschrie, donnerte ihm eine Billardkugel in den Mund, die er darauf verschluckte.
Ivy war währenddessen stehen geblieben und klopfte vorsichtig an eine Türe. Diese glitt sachte auf.
„Doktor Borel, Sébasties Vater ist hier!"
Sie trat einen Schritt beiseite und wies ihm den Weg hinein.
Jean-Philippe trat von der Drohne gefolgt hinein, wo sich ein hochgewachsener, drahtiger Mann gerade bemühte, um seinen Pult herumzukommen und ihn so herzlich wie nur möglich zu empfangen.
„Ivy, ich will auf keinen Fall in nächster Zeit gestört werden! Wie geht es denn uns heute…"
Eine freundliche Begrüssung folgte, in der sich der Arzt bei Sébasties Vaters um dessen Wohlergehen erkundigte und ihn fragte, ob dieser schon irgendwelche Absichten hätten, eine Familie zu gründen. Jean-Philippes direkte Antwort, dass er es leider bedauere, ihm diesbezüglich keinen positiven Bescheid geben zu können, liess den Arzt jedoch stutzig werden.
Also wechselte er rasch das Thema und erkundigte sich professionell nach dem Wohlergehen seines wertvollsten Patienten.
So sprechend, stellte er Jean-Philippe einen Stuhl hin und ging um sein Pult.
Er wollte gerade dessen Akte in der AR öffnen, als er verwirrt inne hielt.
„Mylona, du blöde Kuh…"
Bernard Borel entschuldigte sich kurz und blickte mit dem typisch entrückten Blick in die Ferne, wie jemand, der sich vollumfänglich auf eine AR-Anzeige fokussiert. „Ich hatte ihr doch gesagt…"
Dann erbleichte er sichtlich.
„Verdammt, es ist echt. Das ist ein Notfallruf höchster Priorität für einen Sondereinsatz!"
Unschlüssig blickte der Arzt den alten Mann an. Dieser sah ihn fragend an.
„Was ist?"
„Sie brauchen mich. Ich muss in den nächsten Minuten sofort weg!"
„Soll ich vielleicht ein anderes Mal kommen. Ich kann sonst meinem Sohn Bescheid sagen, dass sie keine Zeit für mich hatten…"
Der Arzt schnappte sichtlich nach Luft.
„Nein, ich… ich bin zwar zum anderen Ende der Stadt geordert worden. Aber ich bin nicht in der Lage, überhaupt eine Rückbestätigung zu bekommen. Es hat ganz den Anschein, als wäre es wieder einmal einer dieser verdammten Fehlalarme. Aber ich komme wegen der Dringlichkeit nicht darum herum, trotzdem hingehen zu müssen…"
„Das heisst?"
Bernard blickte seinen Patienten verzweifelt an. „Haben sie denn heute noch andere Verpflichtungen?"
„Eigentlich nicht, wie mir mein Sohn empfohlen hatte, habe ich mir den ganzen Morgen für sie frei genommen..."
„So so, auf Sébastiens Empfehlung hin… würde es ihnen in diesem Fall vielleicht etwas ausmachen, nur knappe 30 Minuten zu warten, bis wir die Echtheit des Notfallrufs  redundant überprüft haben? Ich bin mir absolut sicher, dass es sich dabei um einen Fehlalarm handelt!"
Während sich nun der Arzt förmlich auf die Lippen biss, sah ihn der ältere Mann nachdenklich an. Bernard Borel sah es schon kommen. Das würde seiner Karriere einen ziemlichen Dämpfer verpassen, wenn er jetzt den Vater des CEOS für dessen Firma er arbeitete, einfach so, ohne auch nur etwa getan zu haben, nach Hause schicken müsste…
„Wenn ich dafür einen Tee kriege?"
„Es tut mir wirklich unsäg… was? Ein Tee?"
Erleichtert schnappte der Arzt nach Luft und rief eine Spur zu schrill das Orkmächen zu sich.
„Vielen, vielen herzlichen Dank! Sie können ansonsten auch ungeniert mein AR-Unterhaltunzentrum benutzen. Ist das momentane Nonplusultra und die Musik-, sowie Trideo-Sammlung ist riesig. Da finden sie sicherlich etwas, damit diese dreissig Minuten im Fluge vergehen!"
Jean-Philippe nickte höfflich, wirkte aber müde. „Ich weiss nicht, ob ich es mir in meinem Zustand zumuten kann!"
„I-ich bin so schnell wie möglich zurück!"
Mylona Ivy Tofalos trat ein. „Mit was kann ich dienen?"
„Du dummes Ding, ich hatte doch gesagt, dass sie meinem Patienten hier einen Tee bringen sollten…"
Während das Orkmädchen sich gerade einen Kommentar verbiss und trotzig erwidern wollte, dass dies nicht stimmte, räusperte sich Jean-Philippe Garand gut hörbar.
„Hätten sie einen Rosen/Kirschen-Erdbeertee für mich, mein liebes Kind?"
Überrumpelt aber erfreut nickte das Mädchen und rannte los, während der Arzt dem älteren Mann einen unschlüssigen Blick zuwarf. Dieser blickte nun Doktor Bernard Borel mit einem derart klaren und wachen Blick in die Augen, dass dieser zurückwich. „Wie wichtig war dieser Notruf schon wieder?"
„Schei.. oh, entschuldigen sie mich bitte. Bin so schnell wie möglich wieder zurück!"
Schnappte sich einen Instrumentenkoffer und hetzte davon.
Als sich die Türe schloss, zog sich Jean-Philippe Garand kurz die Brille aus und rieb sich die Nase.
Dann atmete er tief durch, setzte sich die Brille wieder auf und wandte sich der Drohne zu, die ihm immer noch folgte. Er grüsste sie. „Hallo Louise-Angélique Bertin!"
Förmlich aus dem Nichts des virtuellen Raumes der Matrix trat nun das Matrixkonstrukt einer schwarzhaarigen Schönheit mit traurigem Blick an die Drohne heran und rammte dieser ihre Hand in den Kontrollmechanismus.
„Ach meine teure Louise-Angélique, generier bitte für die Zeit, welche ich hier alleine verbringen werde, eine komplette, alle vorhandene Sensoren umfassende Aufzeichnung, in der ich den Klassik-Trickfilmsender von Warner Brothers suche und auf dem Trideoschirm betrachte. Benutze bitte zeitanalog die kontemporäre Sendung darauf!"
Die in einer verspielten Steampunkrüstung gekleidete Schönheit nickte.
„Und sei für alle unsichtbar! Sicherheit?"
„Maximal gegenüber Eindringlinge. Ansonsten der übliche Phénix Standard!"
„Meine richtige Datenakte?"
Die Frau streckte ihren rechten Arm aus, bis dieser die gegenüberliegende Wand erreichte und sie dort in ein Bild greifen konnte, in dem in der AR der Genfer See in seiner ganzen Pracht zu bewundern war. Neben dem Meer an Diplomen und Auszeichnungen, die die Wand säumten und in der AR die jeweiligen Dankesreden gespeichert hatten, kam ihre Hand mit einer Datenmappe wieder hervor. Diese übergab sie ihm nun.
Jean-Philippe entrollte nun in der AR das von Kinderhand gezeichnete Portrait eines Mannes und zog es wie eine Maske an, verwandelte sich sein ganzer Körper in das dazugehörige Gebilde einer Person, die von einem vierjährigen Kind gemalt worden war.
Kurz musste er mit der Mappe kämpfen, schnappte sie immer wieder zu, wenn er sie zu öffnen versuchte, bis er schliesslich darüber ein kleines schwarzes Fenster im Raum öffnete und darin die Befehlsstruktur der Sicherung durch ging. Es kostete ihm ganze drei Minuten, das weitläufige Programm zu durchforsten, um die entsprechenden Schwachstellen auszumachen. Bis er schliesslich die zwei wichtigsten Befehle blockieren konnte und dann die Mappe an beiden Seiten zusammendrückte.
Endlich sprang sie auf.
Jean-Philippe fächerte nun die darin enthaltenen Blätter vor sich in der Luft aus.
Dies waren die Daten, auf die nur die ihn behandelnden Ärzte und sein Sohn Zugriff hatten.
Und ihm fielen hierbei vor allem die vielfachen roten Balken und Ausrufezeichen bei mehreren der ihm verschriebenen Medikamente auf. Er tippte die auffälligen Warnhinweise an.
Jeweils ein Textfile entblätterte sich dabei.
Und während der Mann sie las, wurde ihm das Herz schwer. Denn die Verschreibung aller Medikamente war durch die gut sichtbare Unterschrift seines Sohnes bestätigt worden.
Die meisten Medikamente zählten als Nebenwirkung eine Hemmung seiner Libido oder eine Abstumpfung seiner emotionalen Wahrnehmung. Aber zwei davon hemmten in beträchtlichen Masse sowohl seine kognitiven Fähigkeiten, wie sie auch sein Erinnerungsvermögen.
Und das hatte er alle Jahre bisher in Kauf genommen?
Kurzerhand senkte er die Dosierung aller verschriebenen Präparate auf ein Minimum.
Riesig und grell leuchtend poppte nun ein pulsierendes Warndreieck über der Datenmappe auf.
*Warnung!
Bei so niedriger Dosierung erhöht sich die Gefahr weiterer Hirnblutungen oder epileptischer Anfälle! Massive Leberschäden sind in den nächsten Wochen zu erwarten!*

Der Mann schloss kurz die Augen, seufzte und wischte dann die Warnung weg.
Es war ein Risiko, dass er in den nächsten Tagen bereit war in Kauf zu nehmen!
Als er nun die Daten über seine Gesundheit sichtete, fiel ihm auf, dass zwischen zwei Blättern der Abstand grösser war, als zwischen den anderen. Als fehle hier etwas…
Kurzerhand rammte er seine Papierhand mit voller Wucht zwischen den zwei Blättern hinein, als sich darauf sein ganzer Arm schwarz verfärbte.
Ein wenig erstaunt schmunzelte er nun, als er mehrfach mit seiner anderen Hand über die Stelle fuhr und dabei scheinbar nach etwas suchte. Dann spürte er das verborgene Kontrollkästchen endlich.
„Louise-Angélique wie lauten Sébastien Garands momentane persönliche Sicherheitspasswörter der Priorität Alpha?"
Die Frau trat neben ihm, zog ihre glitzernde Perlenohrringe aus und hängte diese vorsichtig auf das halbdurchschimmernde Kontrollkästchen, das Jean-Philippe Garand zuvor zu greifen gekriegt hatte.
Als die Perlen hineinflossen, verblasste die Box kurz und wurde dann endgültig sichtbar.
Es hatte wirklich etwas für sich, zu wissen, wo sein Sohn alle Sicherheitspasswörter für Solange hinterlegte, falls einmal ein Notfall eintreten würde…
Die schwärze um seinen Arm verschwand, zog er jetzt eine pulsierende, metallische Kugel hervor.
Und während er diese betrachtete, die pulsierenden Daten darauf betrachtete, konnte er seinem Sohn nicht einmal böse sein.
Momentan waren auf der Kugel die Koordinaten seines augenblicklichen Standpunktes hier in der Schattenklinik abzulesen.
Nach der Beschaffenheit der Sensoren, musste es sich wohl um einen oder mehreren Nanitensender handeln, die er in seinem Körper trug.
Jean-Philippe seufzte schwer.
Dann nahm der alte Mann die Kugel zwischen seinen bizarr gezeichneten Zähnen in der AR und drehte diese vorsichtig, während er dabei die Zähne zusammenbiss. Dann schloss sich sein Mund und betrachtete er die Kugel in seiner Hand, als wäre dies der Apfel der Sünde, den man irgendwann Eva überreicht hatte.
Er hustete kurz und spukte nun eine zweite, identische Kugel aus.
Diese übergab er Louise-Angélique zu Aufbewahrung.
„Ich brauche eine detaillierte Auflistung, wie meine Positionsdaten ausgewertet werden und wie man sie am einfachsten manipulieren kann!"
An der Türe klopfte es.
Kurzerhand rammte er jetzt die echte Kugel wieder in die Stelle zwischen den Blättern und machte das Kästchen wieder unsichtbar.
„Ja, herein bitte!"
Dann legte er alle Blätter in die Mappe und schloss diese, übergab sie seinem Matrixkonstrukt, der sie wieder dorthin brachte, wo sie hingehörte.
Vorsichtig balancierte das Orkmädchen die heisse Teetasse herein und stellte sie mit dem Unterteller vor Jean-Philippe, rührte noch einmal.
„Ich hoffe, es ist nach ihrem Geschmack. Ich habe mir die Freiheit genommen, komplett auf Soyprodukte zu verzichten. Deswegen hat es so lange gedauert!"
Sie lächelte dabei verlegen, als der alte Mann sie eindringlich musterte.
„Sie sind mir bisher noch nie aufgefallen!"
„Oh.. nein, ich bin schon immer hier gewesen. Ich bin praktisch hier gross geworden. Mir scheint es eher; und entschuldigen sie bitte die Direktheit, dass sie bisher einfach viel wortkarger und… sorry für die Formulierung, abweisender als heute waren."
„Ach so… das könnte wohl stimmen. Dafür möchte ich mich bedanken…"
„Für?
„Den Tee!"
„Aber nicht doch, das ist doch eine Selbstverständlichkeit!"
Er nahm die Teetasse, blies das heisse Wasser kurz an und nickte nur.
„Wie heisst du, mein liebes Kind?"
„Aber das wissen sie doch… Mylona Ivy Tofalos."
„Und deine Eltern?"
„Dimitris und Selena? Sie leben mit mir in dem Haus über der Klinik. Inzwischen verdiene ich genug, um für sie beide aufkommen zu können!"
„Sie sind wohl sehr stolz auf dich!"
Das Mädchen strahlte.
„Ja! Sie haben stets an mich geglaubt und das Unmögliche möglich gemacht, damit ich zu Schule gehen konnte und sogar studieren durfte. Aber obwohl ich die Schule mit einem der besten Notenschnitte abschloss, weigerten sich alle mich an einer Universität oder technischen Hochschule aufzunehmen. Wohl weil ich ein Monster bin, von Monstren gezeugt. Und deswegen eine Lebenserwartung habe, die eine finanzielle Investition in mich nicht lohnt…"
Sie liess kurz die Schultern hängen.
„Und wäre nicht die Lehrausbildung hier bei der Phénix Sécurité gewesen, ich wäre wohl als ein weiteres arbeitsloses Gangmitglied wie meine Freunde auf der Strasse gelandet!"
Während sie mit trauriger Stimme sprach, zog sich Philippe eine Kopie der Daten ihrer IDS.
„Ich finde, du machst deine Arbeit wirklich gut!"
Ivy lächelte wieder.
„Geniessen sie den Tee und zögern sie nicht, mich zu rufen, wenn sie etwas brauchen!"
„Das werde ich, bestimmt!"
Zufrieden ging das Orkmädchen.
Der Mann wandte sich nun wieder seinem Matrixkonstrukt zu.
„Louise-Angélique Ich brauche eine alpha-Sicherheitsverbindung zwischen der Phénix Sécurité und der Genfer Kantonalbank!"
„Mal sehen, ob Le bélier wirklich Wort gehalten hat und mein Anteil immer noch existiert. Denn für das, was ich vorhabe, werde ich Geld brauchen!"
„Korridor steht!"
Jean-Philippe erhob sich und lief in der Form seines gezeichneten Alter-Egos in den imposanten Empfangssaal der Banque Cantonale de Genève - kurz BCGE - hinein.
Zwar wurde er dabei von den Wachen ausgiebig gemustert, aber keine von diesen verlies seinen Platz, noch kam ihm jemand entgegen. Dafür leuchtete nun zu seinen Füssen am Boden ein Pfad bordorot, dem es zu folgen galt.
So lange er sich darauf hielt, würde er auch keine Probleme bekommen.
Der Pfad hielt schliesslich vor einem Schalter, hinter dem ein adrett gekleideter, elfischer Bankangestellte ihn überhöflich empfing. „Sie wünschen mein Herr?"
Philippe bekundete erstmals ein wenig Mühe, sich an die richtige Worte zu erinnern. Aber schliesslich brachte er sie zusammen.
„Ich bin der Letzte der kommt, vom jurassischen Sturmbock eingeladen, um am Oger vorbei, die Herzogin zu besuchen!"
Und zum ersten Mal, seit der verhängnisvollen Nacht des Crashs von 2064 übermittelte er der Bank seine legendäre Decker- Signatur, von der er eigentlich geschworen hatte, sie niemals wieder einzusetzen…
Schlagartig veränderte sich die Realität.
In der AR stand er nun auf einer kleinen Insel inmitten des Genfer Sees, während vor ihm eine imposante Schatztruhe auf dem Boden ruhte.
Louise-Angélique war zwar nicht mitgekommen, aber das beunruhigte ihn nicht weiter. In diesem Zusammenhang vertraute er seinem Deckerbruder blindlings.
Vorsichtig ging er auf die Truhe zu.
Zwischen ihm und der Truhe materialisierte sich nun ein kleiner Kobold, verneigt sich höflichst und strahlte ihn förmlich an.
„Seit Jahren warte ich auf diesen Augenblick! Ich wurde nur zu diesem einen Zweck programmiert! Und auch nur für diesen einen Zweck existiere ich. Ich bin der Hüter des Versprechens!
Belüge mich und ich werde das Geld mit mir ins Nirwana des Netzes nehmen und für die nächsten drei Jahre unauffindbar verstecken!
Beantworte meine einzige Frage richtig, und der Schatz gehört dir!"
Er führte ein kleines Tänzchen auf und verneigte sich wieder. „Bist du bereit?"
Jean-Philippe Garand nickte, als er sich im Klaren war, das der kleine Kobold wohl Le béliers Meisterarbeit war. Sehr wahrscheinlich hätte jeder Versuch, diesen zu manipulieren oder anzugreifen das Geld unwiederbringlich verloren. Zumindest für die nächsten drei Jahre!
Also hiess es jetzt mitzuspielen.
Auge zu und durch…
„Ja!"
Der Kobold verbeugte sich und hielt ihm einen leeren Bogen Pergament mit fünf Linien entgegen.
„Wir waren fünf…"
Hallte nun Le béliers Stimme aus dem Pergament.
„… wer waren wir?"
Beendete der Kobold den Satz und hielt ihm noch eine Schreibfeder entgegen.
Philippe musste darauf grinsen, als er die Feder entgegen nahm und jeweils die Namen seiner Kollegen aus ihrer gemeinsamen Runnerzeit eintrug. Le béliers, Duchesse, Le Dernier L'Ogre und La Peste.
Das war doch nicht so schwer…
Nach all den Jahren erinnerte er sich noch an ihre Namen, als wäre es gestern gewesen!
Geduldig blickte ihn der Kobold dabei an.
Doch als er das Pergament zurückgeben wollte, fühlte er ein seltsames kribbeln im Nacken.
Das war jetzt doch zu einfach…
Irgendwie konnte er nicht glauben. Dass das schon alles gewesen war…
„Sobald ich die Antwort gegeben habe, habe ich sofort Zugriff auf mein Geld?"
„Ja, wenn du die richtige Antwort gibst."
Erneut wollte er ihm das Pergament überreichen, aber irgendwie war da noch was…
Als müsste er sich an irgendetwas erinnern. Etwas Wichtiges…
Der Satz hallte ihm immer noch nach. Und wurde wiederholt, als er da Pergament erneut aufrollte.
„Wir waren fünf…"
Und ihm lief es eiskalt den Rücken hinab.
„Als wir gingen."
Beendete er das Zitat.
Er musste die Augen schliessen, als die Erinnerung sinnflutartig über ihn herein brach.
Damals, am 9. Februar 2029, als es ihnen mehr tot als lebendig endlich gelang, die Grenze zur CSF zu überschreiten. Mit einem schwerverletzten jungen Mann im Gepäck, der für sie mit Sicherheit seinen noch gesunden Arm geopfert hatte und der nicht mehr damit rechnete, lebend den nächsten Morgen zu erleben.
Es war dort hinter der Grenze, als man sich geschworen hatte, dafür zu sorgen, dass er seine Chance kriegte!
„Und zu sechst haben wir es überlebt!"
Murmelte er Duchesses Antwort drauf, als er auf dem Pergament eine neue Linie zog und Gryff darauf schrieb.
Doch noch während er es schrieb, wusste er, dass es falsch war.
Irgendwie passte der Name absolut nicht dorthin.
Es war auch nicht der richtige Name des Schwures!
„Ich warte…" Meldete sich inzwischen der Kobold zu Wort.
Pius hatte damals einen anderen Namen getragen.
Und genau an den konnte er sich nicht mehr erinnern!
Philippe verfluchte die Medikamente, rieb sich mehrfach die Schläfen. Aber er kam nicht darauf.
Er blickte in den virtuellen Himmel, versuchte sich an irgendetwas zu erinnern, was mit diesem Namen in Zusammenhang stand. Und ihm kam nur stets Gryffs dämliche Antwort in den Sinn; dass dieser Name ihm einer seiner verhasstesten Lehrer gegeben hatte, weil er ihn so sehr an den Charakter eines Filmes erinnerte…
Er schoss hoch.
„Darf ich etwas zu Hilfe nehmen?"
„Das wäre?"
„Die universelle Filmdatenbank, insbesondere das Register der Regisseure!"
Verdutzt blickte ihn der Kobold an und nickte.
Er erinnerte sich zwar auch nicht mehr an den Namen des Regisseurs.
Aber er erinnerte sich noch genau, dass er damals stets an einen Würfel hatte denken müssen, als ihm Pius das mit seinem Namen ihm in seinem eingerosteten Schulfranzösisch zu erklären versuchte. Einen Kubus…
Als er das Verzeichnis unter K öffnete, fiel ihm der Name sofort auf: Stanley Kubrick!
Und da der Name nur auf Deutsch existierte…
Mit einem erleichtern Seufzer korrigierte er den letzten Eintrag auf Dr. Seltsam und drückte dem Kobold ohne zu zögern das Pergament in die Hand.
Dieser las die Namen durch und verbeugte sich. Dann verschwand er.
Jean-Philippe Garand trat an die Kiste heran und öffnete sie.
Und seinem Konto wurden 8 Millionen Schweizer Franken gutgeschrieben.
Ihm blieb die Spucke weg!
Dermassen, dass er sich in der Wirklichkeit setzen musste, sonst wäre er hingefallen.
Zusammen mit der Überweisung poppte auch ein kleines von Le bélier geschrieben Programm auf, in dem dieser ihm auf seine unnachahmliche Art und Weise alles Gute mit dem Geld wünschte. Dabei versicherte er ihm auch, dass er das Geld nicht einfach nur weggespert hatte, sondern meistens gewinnbringend angelegt und sowohl die Zinsen wie auch die Rendite gutgeschrieben hatte!
Jean-Philippe war es im Moment schwindlig, als er sich in der Praxis des Arztes umsah. Noch während er einen Schluck nahm liess er den Blick wandern.
Das ermöglichte ihm bisher ungeahnte Möglichkeiten!
Dann blieb sein Blick an einem Foto der Lausanner Skyline hängen in der im Hintergrund die einsame Nadel des Skypalast-Komplexes zu erkennen war.
Er erinnerte sich noch gut an das Prestigeprojekt der Stadt. Phénix Sécurité hatte damit einen der lukrativsten Verträge an Land gezogen!
Es hätte ein komplett neuer, futuristischer Stadtteil werden sollen. Und Zentrum, sowie Herz davon war ein 52stockwerke hoher Wolkenkratzer, in dem er für sich und seine Patricia sogar eine Wohnung gekauft hatte.
Bis sich nach einem kleinen Erdbeben zeigte, dass der Bau doch nicht so sicher war, wie angenommen und das Hochhaus kurzerhand evakuiert werden musste.
Seit über fünf Jahren stritt sich nun die Stadtverwaltung darum wer die Abrisskosten übernehmen sollte…
Seit damals lag da ganze Gebiet brach!
Und plötzlich wusste er was zu tun war... und vor allem, wie er es tun würde. Wie er Joëlle Marie Claudette und all die anderen hingerichteten Hacker rächen und ihnen ein Denkmal setzen würde!
Er spürte formlich wie die Lebensgeister wieder ihn ihn zurückkehrten!
Also richtete er sich auf und wollte Louise-Angélique gerade um etwas bitten, als ihm erneut der wunderbare Duft des Tees in die Nase stieg.
Er trank ihn genussvoll aus.
Dann setzte er sich mit einem diabolischen Grinsen an das Pult des Arztes und verfasste ein Dankesschreibe im Namen einer imaginären Fördergesellschaft, die er während des Schreibens erfand und die sein Matrixkonstrukt nur für diesen einzigen Zweck registrieren und akkreditieren liess. Davon überwies der Familie Dimitris und Selena Tofalos im Namen ihrer talentierten Tochter Mylona Ivy eine Million Schweizer Franken zur Gewährleistung und Unterstützung deren zukünftigen Karriere.
Es fühlte sich irgendwie angenehm an, als er nun auf die Uhr blickte.
„Wir haben jetzt noch knapp siebzehn Minuten, so tief wie nur möglich in die Schatten zu tauchen!
Louise-Angélique, ich brauche jetzt Ausrüstung, die Beste! Sowie einen Köder! Einen verdammt grossen..."
Ein gewisser Herr geht zum Arzt...
;-)
© 2012 - 2024 Thereallobezno
Comments3
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NikitaTarsov's avatar
Hehe, cool. Kommt gut rüber, und besonders seine "Wiederauferstehung";)